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„Uns Jugendliche haben sie einfach vergessen“

Klein-Machnow: Eine Kleinstadt und ihre ungeliebten Kinder/ Straighte Anpassung, einiges Engagement, die große Langeweile und der selbstverständliche Fremdenhaß/ Die Erwachsenen sind irritiert und hilflos/ Freiheit, soll's denn sein?  ■ Aus Klein-Machnow Bascha Mika

„Sie (die Medien) überzogen den Kern des Problems — daß unsere Kinder in der Schule zur Unwahrhaftigkeit erzogen und in ihrem Charakter geschädigt werden, daß sie gegängelt, entmündigt und entmutigt werden — mit wort- und bilderreicher Schaumschlägerei.“ (Christa Wolf, Oktober 1989)

Jugendliche in der DDR: Geschädigt, gegängelt, entmündigt und entmutigt ihr ganzes kurzes Leben lang? Und seit der Wende die Freiheit — oder was? Was?

5.700 spitze Giebel, ebenso viele viereckige Vorgärten, reichlich alte Baumwipfel und ein großer Teich, an dem man mit Fug und Recht Alle meine Entchen singen kann. Klein- Machnow im Kreise Potsdam, eine Kleinstadt, wo 5.000 der 5.700 Häuser zwei Herren haben: die, die in den letzten Jahren darin wohnten und die, die Anspruch darauf erheben, seit es die DDR nicht mehr gibt.

Jeder weiß es in Klein-Machnow, daß die meisten um ihr Zuhause fürchten müssen. Jeder weiß auch, daß viele arbeitslos sind oder es bald sein werden. Die Parteischule, die größte im Staat, verschwand mit der SED; die drei Großbetriebe der Umgebung sind den Treuhand-Weg gegangen. Doch weil das frühere Villengebiet und spätere Luxuswohngebiet für besonders treue Sozialisten schon immer etwas Besseres war, kommt die Worte „arbeitslos“, „wohnungslos“ hier nur schwer über die Lippen. Die alltägliche Ordnung wird irgendwie aufrechterhalten. Aber da liegt noch etwas quer zu diesen Anstrengungen der Machnower: die eigenen Kinder. Die Kleinen hat man ja noch im Griff, aber die Großen...

„Vor der Wende waren unsere Jugendlichen ganz artig.“ Pfarrer Langhein träumt nicht gerade von alten realsozialistischen Zeiten. Dazu mußte er sich als Jugendpfarrer zu oft beschränken lassen. Aber: „Jetzt dürfen die Jugendlichen alles, und das ist ganz schön beängstigend.“

Sie machen ihren Eltern Angst und ecken bei den Machnowern an. Sie treffen sich am Düppel-Teich, vor der Eisdiele oder seit neuestem im Jugendcafé des Kulturhauses. Christine, René, André, Ronny, Nicole, Alexander und Andreas zum Beispiel: Schüler und Lehrlinge zwischen 14 und 18, vereint in einer 20 bis 30 Leute starken Clique aus Klein-Machnow, Teltow und Stahnsdorf, die sich fast täglich trifft.

„Ich geh in die Schule, schlaf meine Stunden ab, geh nach Hause, knall die Tasche ins Eck und hau ab zum Düppel.“ Bis vor einem Jahr war die knapp 15jährige Christine genau wie der gleichaltrige Andreas Stubenhockerin. Dann schnitt sie sich die Haare auf halbe Streichholzlänge, umrahmte die Augen mit schwarzem Kajal und setzte das einstige Drängen der Mutter: „Kind, geh doch mal raus!“ in die Tat um.

Da stehen und sitzen sie am Teich, reden, rauchen, sind mal zärtlich, mal grob miteinander und werden mißtrauisch von denen beäugt, für die eine größere Gruppe von Jugendlichen gleich „Rowdytum und Zusammenrottung“ war, als noch Ordnung herrschte. Damals gingen die, die nicht zu Hause bleiben wollten, in den „Affenclub“ der FDJ.

Und bei den Pionieren und der FDJ waren alle. „Wir haben sowieso nicht hingehört, es war so langweilig“, versichern sie sich gegenseitig. Aber wenn man nicht hinging, nervten die Lehrer nur rum und an den Noten merkte man es auch. „Da mußten wir uns ständig die alten Geschichten von irgendwelchen Widerstandskämpfern und Antifaschisten anhören.“ Aber eins fand der 16jährige Ronny gut an den wöchentlichen Veranstaltungen: daß es an diesem Tag keine Hausaufgaben gab.

Inzwischen ist der Blonde mit dem vollen Gesicht ganz anders drauf. „Leistung muß man bringen. Ist klar, ist 'ne andere Zeit jetzt.“ Andere Zeit heißt für alle hier Angst, keine Lehrstelle zu kriegen, vor allem bei denen, die jetzt die 10. Klasse beenden.

Außer Pionier- und FDJ-Treffen gab es noch Schul-AGs, mindestens zwei waren das Soll. Wie hieß es im Bildungsgesetz: „Die Erziehung der Kinder obliegt den Schulen, den gesellschaftlichen Einrichtungen und den Eltern.“ In dieser Reihenfolge. „Kein Wunder, daß viele Eltern die Verantwortung für die eigenen Kinder weder kennen noch wahrnehmen“, räsonniert Langhein.

„Heute muß man es cool sehen,“ weiß Ronny. „Wenn ich mir meine Mutter anseh: Die muß sich bewerben in ihrem eigenen Betrieb und ist nervlich völlig kaputt. Da bleiben nur Drogen oder Alk.“ Und darauf stehen die Jugendlichen nicht besonders. Klar wird auch gesoffen, aber nur am Wochenende.

Am Teich und vor der Eisdiele frieren sie sich oft den Hintern ab. Der Affen-Club, nach der Wende von der Gemeinde übernommen, ist seit Wochen geschlossen. Man streitet sich, ob ihn Skins zusammengelegt haben oder ein Brand diese Arbeit verrichtet hat. Seit März gibt es wenigstens das Jugendcafé im Kulturhaus, zwei Schritt von der Eisdiele, 20 vom Düppel entfernt. „Die Jugendlichen wollen doch beschäftigt werden, die wollen, daß was passiert.“ Christine Fitzmann und ihre zwei Kolleginnen, die hier gemeindliche Jugendarbeit machen, haben ein Billard, ein Klavier, eine Musikanlage und Spiele in den Raum im ersten Stock des Hauses gestellt. Besonders schön ist es wahrlich nicht, aber die Kids kommen, 15 bis 20 pro Tag. Nur ist nicht jeden Tag offen.

Was der 17jährige René, der gerade eine Kochlehre angefangen hat, mit anderen auf die Beine stellen will, ist eine regelmäßige Disco im Haus. „Die Jugendlichen aus der ganzen Gegend sollen kommen. Keine Drogen, kein Alkohol. Wir wollen die von der Straße holen,“ ereifert sich der große Schlacksige. Dann gäbs auch nicht mehr so viel Randale. „Die Skins langweilen sich doch nur, wollen sich abreagieren.“

Mit rasanter Schnelligkeit schlossen sich DDR-Jugendliche nach der Wende verstärkt in Gruppen zusammen. Das passende Outfit kam aus dem Westen, die Ideologie aus beiden Teilen. „Ich bin normal,“ findet Christine, „ich hab was gegen übermäßig viele Ausländer.“ Wenn man für Ausländer Polen einsetzt sind sich sogar alle einig. „Wir ham' was gegen die.“ Für Skins hat Christine noch eher was übrig. „Ich find es etwas affig, wenn die Glatzen sich zu fünft auf einen Türken stürzen. Aber wenn sie wollen“, meint sie ganz locker und zupft an ihrem Hemdchen. Nur als letztens drei aus ihrer eigenen Gruppe zusammengeschlagen wurden, fand sie es weniger gut.

Bei ihren Discoabenden nehmen René und André den oft über 100 anrückenden Kids Schlagstöcke, Schußwaffen, Messer weg, meist ganze Berge. Angst, daß es Schlägereien gibt, herrscht immer. Und auch die Langeweile. „Jetzt kommst du hierhin und rauchst. Früher mit der FDJ haste wenigstens was unternommen, Fahrten und so. Kamst für 20 Pfennig in jede Veranstaltung“, wird plötzlich einer nostalgisch. „Direkt nach der Wende war was los, aber seit einem halben Jahr ist tote Hose.“ Und Alexander, der unter 2.000 Bewerbern eine der 50 Lehrstellen bei der Potsdamer Sparkasse bekam: „Ich komm von der Arbeit nach Hause, sitze hier, fahr wieder heim, das kann‘s doch nicht sein.“ André, die Arme auf der Stuhllehne: „Uns Jugendliche haben sie einfach vergessen.“

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