: Darf ich meinen Traum erzählen...?
■ Luis Bunuels „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“, 1.20 Uhr, Pro 7
Luis Bunuel, der als Speerspitze des surrealistischen Films gilt, führte in 32 Filmen Regie. Der diskrete Charme der Bourgeoisie wurde 1972 in Madrid gedreht und zählt zum Spätwerk des gebürtigen Spaniers, der 1964 nach Mexiko auswanderte, um an 1964 wiederum in Frankreich zu arbeiten. Bei der Themenwahl suchte Bunuel gemäß der surrealistischen Neigung ein sich wiederholendes Motiv, das im Zuge der Handlung variiert werden konnte. Produzent Silbermann erzählte zufällig von einem ihm widerfahrenen Mißgeschick. Er hatte Leute zu sich zum Essen eingeladen, vergaß jedoch, dies seiner Frau auszurichten und überdies, daß er selbst woanders eingeladen war.
Das war's. Don Luis machte schnipp, und nach mehreren Drehbuchfassungen stand das Konzept zum diskreten Charme. Der Drogendealer und korrupte Botschafter einer fiktiven südamerikanischen Republik (Fernando Ray) ist mit den Ehepaaren Thevenot (Paul Frankeur und Delphine Seyring) und den Senechals (Jean-Piere Cassel und Stephane Audran) zum Essen verabredet. Mehrfach versucht man, zum Speisen zusammenzukommen. Doch das simple Unterfangen mißlingt ein ums andere mal. Und zwar auf jeweils ungewöhnliche Weise, ohne jedoch dem Zufall dabei allzu viel Gewalt anzutun.
Zunächst irren sich die Gäste (oder die Gastgeber?) im Datum. Peinliche Situation. Auf Anraten des Botschafters begibt man sich zu einem nahegelegenen Restaurant. Doch just an diesem Tag ist der Wirt gestorben und liegt im Speisesaal aufgebahrt. Darauf fällt es den Senechals ein, ausgerechnet zum Zeitpunkt des Empfangs eine Nummer zu schieben. Um dabei nicht gestört zu werden, verdrücken sie sich heimlich in den eigenen Garten. Endlich um den fürstlich gedeckten Tisch vereint, brechen unter Führung eines Colonels zwölf (hungrige) Offiziere in den Speisesaal. Aus dem Essen wird also wieder nichts, denn ein Melder tritt heran und bittet um die Erlaubnis, seinen Traum erzählen zu dürfen.
Das Prinzip der Traumeinschübe ist maßgeblich für die Erzählstruktur des diskreten Charmes. Wobei es sich nicht um Träume im psychoanalytischen Sinn handelt, sondern um handwerklich virtuos eingestreute Handlungsfragmente, die das Geschehen auf der „Realitätsebene“ durch ihre formale und inhaltliche Gestaltung konterkarieren und auf amüsante Weise ad absurdum führen. Dieses komödiantische Fabulierspiel treibt Bunuel so weit, daß die Filmhandlung sich schließlich im Traum fortsetzt, den einer der Protagonisten erzählt. So kommt es zur grotesken Verwicklung, daß der Colonel sich für sein barsches Eindringen mit einer Gegeneinladung revanchiert. Endlich bei Tisch, bemerken die Gäste, daß sie Schauspieler auf einer Theaterbühne sind und zum Vergnügen des johlenden Publikums ihre „Rollen“ nicht beherrschen. Und so weiter.
Gerade in seiner unverkrampften Lockerheit ist Der diskrete Charme ein bombastisches Stück Kino, das sich wegen seiner ausgefeilten szenischen Erfindungen und den pointierten Dialogen immer wieder zu senen lohnt. Manfred Riepe
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