KOMMENTARE: Die Schonzeit ist vorbei
■ Der Kündigungsschutz im Metallbereich Ostdeutschlands läuft aus
Natürlich haben die Arbeitgeber recht, wenn sie, entsprechend ihrer betriebswirtschaftlichen Logik, von den Kosten der zurückgestauten Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern sprechen. Natürlich sind jene Menschen, die in „Kurzarbeit Null“ ihre Tage verbringen, eine Belastung für die ums Überleben kämpfenden Betriebe, ein Investitionshemmnis für das westdeutsche Kapital. Die unerbittlichen Gesetze der Konkurrenz, die mit der Währungsunion über die Betriebe und Menschen Ostdeutschlands hereingebrochen sind, lassen keinen Raum für die Sentimentalität des Sozialen. Mit dem Auslaufen des Kündigungsschutzes in der Metallindustrie am 30. Juni wird, um es in der nüchternen Sprache der Ökonomie zu sagen, überschüssige Arbeitskraft in Höhe einer halben Million Einheiten kurz- bis mittelfristig vom Markt genommen.
Die Gewerkschaften werden sich gegenüber der Dynamik der Ökonomie nicht durchsetzen können. Sie haben versucht, Schutzwälle gegen die Massenarbeitslosigkeit zu errichten. Natürlich haben sie mit ihren Versuchen, die Menschen vor den Auswirkungen des mit der Währungsunion vorprogrammierten wirtschaftlichen Zusammenbruchs in den neuen Ländern nach Kräften zu schützen, marktwidrig gehandelt. Aber sie konnten letztlich nur einen Aufschub für Hunderttausende erzielen, um ihnen vielleicht den Übergang von der alten in die neue Wirtschaftsordnung zu erleichtern. Und sie haben es aus der Defensive getan, und mit schlechtem Gewissen: wer kann heute schon offen zugeben, daß die Marktwirtschaft vor den wirtschaftlichen Erfolg die Zerstörung alles Unproduktiven setzt und daß dies heute in Ostdeutschland nicht nur die maroden Produktionsanlagen betrifft, sondern Millionen Menschen.
Die Schonzeit ist also bald vorbei. Aus wirtschaftlicher Sicht ist damit eine wesentliche Voraussetzung für den Neuanfang geschaffen, der aller Voraussicht nach in eine langanhaltende regionale Strukturkrise münden wird. Die Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, stellen sich auf die neue Zeit ein und fühlen sich plötzlich für die Arbeitslosen zuständig. Das ist in Westdeutschland eine langjährige Forderung von Gewerkschaftskritikern gewesen. Nun wird sie unter dem Druck der Entwicklung in Ostdeutschland endlich realisiert. Neben all dem Unabänderlichen wenigstens eine begrüßenswerte Erneuerung. Martin Kempe
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