: Eine halbe Million muß gehen
Kündigungsschutz für Metallindustrie in Ostdeutschland wird nicht verlängert/ Massenentlassungen nach dem 30.Juni sind vorprogrammiert/ IG Metall Sachsen richtet Arbeitslosenbüros ein ■ Von Martin Kempe
Berlin (taz) — Die IG Metall hat aufgegeben. Ein weiteres Spitzengespräch mit den Arbeitgebern zur Verlägerung des Kündigungsschutzes in der Metallindustrie Ost sei sinnlos, meinte jetzt der zweite IGM- Vorsitzende Klaus Zwickel. Damit ist klar, daß eine der wichtigsten Barrieren gegen den Anstieg der Massenarbeitslosigkeit in den neuen Ländern den 30.Juni nicht überdauern wird. Nach Schätzungen der Gewerkschaft und der Arbeitgeber müssen dann mehr als eine halbe Million Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie danach über kurz oder lang den Gang zum Arbeitamt antreten. Das ist rund die Hälfte der etwa 1,1 Millionen Beschäftigten, in der zu Jahresbeginn 1991 rund 640.000 auf Kurzarbeit gesetzt waren, davon etwa ein Drittel auf „Kurzarbeit Null“ oder mit einem Arbeitsanteil von weniger als 25 Prozent.
Die IG Metall hat immer wieder die Notwendigkeit betont, für die beschäftigungslosen Ost-Metaller den betrieblichen Zusammenhang über betriebliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Beschäftigungs- und Qualifikationsgesellschaften zu erhalten.
Dagegen haben die Arbeitgeber schon im ersten Spitzengespräch im April klargemacht, daß ein radikaler Personalabbau für die Sanierung der Ost-Betriebe unumgänglich sei. Die Weiterbeschäftigung von ganz oder überwiegend nicht benötigten Arbeitskräften belaste die Betriebe der Metall- und Elektroindustrie mit bis zu 35 Prozent der Lohn- und Gehaltssumme eines Vollbeschäftigten. Für die Zeit vom 1.Juli 1990 bis 30.Juni 1991 beliefen sich diese Kosten auf insgesamt 1,8 Milliarden Mark für die tariflichen Zuschüsse zum Kurzarbeitergeld und für die Lohnfortzahlung an Feiertagen und im Urlaub. Diese Kosten stünden einer Sanierung der Betriebe entgegen und hätten sich auch für westliche Unternehmer als Investitionshemmnis erwiesen.
Die Gewerkschaft will jetzt versuchen, auf bezirklicher Ebene eine tarifliche Verlängerung des Kündigungsschutzes durchzusetzen oder entsprechende Betriebsvereinbarungen abzuschließen. Ob die Arbeitgeber sich allerdings auf diese Weise weichklopfen lassen, wird auch von Gewerkschaftern bezweifelt. Denn es setzt eine Spaltung im Arbeitgeberlager voraus, die es in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik bisher nur in seltenen Ausnahmefällen gegeben hat, nämlich dann, wenn es den Arbeitgebern so gut ging, daß einzelne auf Lohnforderungen der Gewerkschaft entgegen ihrer Verbandsraison eingingen.
Die IG Metall, die in Ostdeutschland rund eine Millionen Mitglieder hat und damit fast alle Beschäftigten ihres Organisationsbereichs erfaßt, beginnt sich auf ihre Zukunft als Arbeitslosengewerkschaft einzustellen. Bei ihrer ersten ordentlichen Bezirkskonferenz hat die IG Metall Sachsen am Wochenende beschlossen, flächendeckend in den Betrieben und Wohngebieten des Freistaats Sachsen Arbeitslosenbüros einzurichten. Die zahlreichen arbeitslosen Gewerkschaftsmitglieder sollen in ihren Wohngebieten ebenso Vertrauensleute wählen wie sonst in den Betrieben. In dem einstimmig angenommenen Antrag heißt es, daß den von Arbeitslosigkeit Betroffenen innerhalb und außerhalb der Betriebe gleichermaßen Schutz und Beratung gewährt werden müsse. Die Räume sollen nach den Vorstellungen der Gewerkschaft von den Kommunen gestellt werde. Als Personal sollen zunächst arbeitslose Gewerkschaftsmitglieder eingesetzt werden.
Auch in anderen Bezirken der IG Metall gibt es ähnliche Überlegungen. Im Bezirk Berlin-Brandenburg drängt man seit einiger Zeit auf eine Grundsatzentscheidung der Frankfurter IG-Metall-Zentrale über mögliche Trägerkonstruktionen und Finanzierungsmodelle für Arbeitslosen-Beratungsbüros. Diese Entscheidung läßt allerdings auf sich warten. Daß die Metallgewerkschaft jetzt vorprescht, ergibt sich aus den Mängeln beim gewerkschaftlichen Neuaufbau in den fünf neuen Ländern: Der DGB als Dachverband für alle Gewerkschaften ist zu einer flächendeckenden Betreuung der Arbeitslosen noch nicht in der Lage.
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