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Original Marsberger Kieselrotsuppe

Dioxin aus „Kieselrot“ hat Nahrungskette bisher nicht erreicht/ Böden und Flußsediment nahe der Marsberger Kupferhütte verseucht/ Belastung von Muttermilch „normal bis leicht erhöht“  ■ Aus Marsberg Walter Jakobs

„Ich habe das Zeug jahrelang von morgens sechs bis abends zehn gefahren. Im Sommer hat es fürchterlich gestaubt, und ich hab' mir tagsüber die Hände nicht gewaschen. Mein Butterbrot hab' ich mit meinen dreckigen Fingern gegessen. Heute bin ich siebzig Jahre alt und fühle mich kerngesund. Das wollte ich hier nur mal sagen.“ Heftiger Applaus für Anton Bieker in der Marsberger Schützenhalle. Was der Kraftfahrer Bieker sagt, scheint genau die zuvor von zahlreichen Experten erläuterten Meßwerte anschaulich zu bestätigen. Im Kern lautet die vorläufige Botschaft so: Die überall im Bundesgebiet auf Sport- und Spielplätzen eingesetzte hochgiftige Schlacke „Kieselrot“, ein Abfallprodukt aus der 1945 eingestellten Kupferproduktion in Marsberg, hat die Nahrungskette offenbar nicht in dem befürchteten Ausmaß erreicht. Grasproben aus dem Bereich der ehemaligen Kupferhütte weisen mit ein bis fünf Nanogramm Dioxin pro Kilo „normale bis nur leicht erhöhte“ Werte auf. Ein „Beweidungsverbot“, so teilt der im Düsseldorfer Umweltministerium zuständige Abteilungsleiter Reinhard Störmer den Anwesenden mit, sei deshalb „nach dem bisherigen Stand der Messungen nicht notwendig“. Auch die Belastung des durch das Gebiet laufenden Flusses Glinde, in dessen Sediment bis zu 600 Nanogramm Dioxin pro Kilogramm gemessen wurden, hat bei den dort gefangenen Fischen keine besonders hohen Dioxinrückstände hinterlassen. Die in den Forellen gemessenen 16 Nanogramm pro Kilo Fett liegen nach Darstellung der Experten im „normalen Bereich“, vergleichbar der Belastung von Fischen aus anderen Flüssen oder aus der Nord- und Ostsee. Auch die Dioxinbelastung der Muttermilch, bisher wurden zwei Proben von Müttern aus Marsberg untersucht, fällt mit elf bzw. 15 Nanogramm pro Kilo Milchfett nicht aus dem Rahmen. Der bei 600 Frauen aus NRW gemessene Durchschnittswert liegt bei 14,9 Nanogramm. Von den noch nicht abgeschlossenen Blutuntersuchungen erhoffen sich die Marsberger demnächst weitere Sicherheit.

Zu den in unmittelbarer Nähe der Halde gelegenen Gärten und zu dem Flußbett der Glinde ist das Seveso- Gift dagegen nachweislich vorgedrungen. In den Gärten wurden Dioxingehalte von 100 bis 400 Nanogramm pro Kilo Boden festgestellt. Diese Ergebnisse lassen eine normale Gartennutzung nicht zu. Der vom Bundesumweltamt und -gesundheitsamt genannte Richtwert, der eine „uneingeschränkte landwirtschaftliche Nutzung“ erlaubt, liegt bei fünf Nanogramm Dioxin pro Kilo Boden. Bei über 40 Nanogramm soll es landwirtschaftlichen Anbau nur noch mit Früchten mit „nachweislich minimalem Dioxintransfer“ geben. Das Düsseldorfer Umweltministerium rät nun, „auf den Anbau von Blatt- und Wurzelgemüse vorläufig zu verzichten“. Statt dessen könne man auf „weniger verschmutzungsgefährdete“ Erbsen, Bohnen sowie Obst ausweichen.

Die entscheidende Frage im Zusammenhang mit der Belastung der Gartenböden stellte am Dienstag abend in der Schützenhalle ein besorgter Anwohner: „Was bedeuten die Werte in bezug auf die im Garten spielenden Kinder?“ Eine nur zu berechtigte Frage, denn das Bundesgesundheitsamt empfiehlt schon bei einem Dioxingehalt von 100 Nanogramm pro Kilo auf Kinderspielplätzen den kompletten „Bodenaustausch“. Dieser Vorschlag sei deshalb ergangen, so Prof. Basler vom Bonner Umweltministerium, weil man davon ausgehe, daß Kleinkinder beim Spielen kleine Mengen vom Boden aufnähmen. Wenn Kinder zum Garten Zutritt hätten, müsse der Boden bei „bestimmten Werten“ saniert werden. Im Einzelfall reiche vielleicht eine Rasenabdeckung. In den „vorsorglichen Empfehlungen“ des Düsseldorfer Umweltministeriums an die betroffenen Gartenbesitzer sucht man einen Hinweis auf die mögliche Gefährdung der Kleinkinder vergebens. Aufgeregt hat sich darüber in Marsberg am Dienstag abend aber niemand. Die Menschen reagieren in der sauerländischen Kleinstadt durchweg gelassen, vertrauen darauf, daß die Medien das Problem „hochgespielt“ haben. Davon kann indes keine Rede sein. Von dem hochgiftigen Kieselrot sind nach neuesten Schätzungen mindestens 400.000 Tonnen verbaut worden. Inzwischen gibt es 730 Verdachtsflächen, davon 480 in NRW, der Rest über das ganze Bundesgebiet verteilt. Zur Zeit berät eine Bund-Länder-Kommission, was mit dem bis zu 100.000 Nanogramm extrem verseuchten Kieselrot geschehen soll. Im Gespräch ist eine Versiegelung ebenso wie die Ablagerung in Sondermülldeponien, die jedoch die gesamte Tonnage gar nicht aufnehmen könnten.

Ein Marsberger Hotelier hat sich durch die Dioxinfunde ganz besonders inspirieren lassen. Das Wort des Marsberger Bürgermeisters, wonach man das Problem zwar „sehr ernst“ nehmen müsse, aber „kein Grund zur Panikmache“ bestehe, möglichwerwiese falsch verstehend, bietet das Hotel „Kloke-Poelmann“ eine neue kulinarische Kreation an. Für 6 Mark fünfzig kann man dort eine „Original Marsberger Kieselrotsuppe“ essen, „sehr pikant“, wie die Serviererin meint.

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