Neuer Zwangsdienst für überschüssige Soldaten?

■ Was soll werden mit der Wehrgerechtigkeit für alle, wenn demnächst nur noch jeder zweite, bis 1995 nur noch jeder dritte den Dienst mit der Waffe versehen soll? Eine interne CDU-Studie...

Neuer Zwangsdienst für überschüssige Soldaten? Was soll werden mit der Wehrgerechtigkeit für alle, wenn demnächst nur noch jeder zweite, bis 1995 nur noch jeder dritte den Dienst mit der Waffe versehen soll? Eine interne CDU-Studie argumentiert mit zweifelhaften Berechnungen aus der Bundeswehrverwaltung für die Einführung von Zwangsdiensten.

VON BERND MÜLLENDER

Schon heute entkommen viele Wehrpflichtige dem Einberufungsbescheid zur Bundeswehr. Der Grund: Es gibt — obwohl die Verweigererzahlen kontinuierlich steigen (schon über 80.000 in den ersten vier Monaten 1991) — einfach zu viele von ihnen. Und in Zukunft, nach erfolgter Truppenreduzierung von heute 495.000 Soldaten auf 370.000 im Jahr 1995, werden es noch viel mehr werden. Gegen solche weißen Teiljahrgänge hat kein Verteidigungsminister eine wirksame Waffe. Schnell wurde in Bonn die Vokabel von der „Wehrgerechtigkeit“ reaktiviert. Und PolitikerInnen aus allen Parteien beginnen, aus dem Stand und ins Blaue hinein über Abhilfe nachzudenken. Noch sprechen manche von „Geisterdebatte“ (Renate Schmidt, SPD) oder „Gespensterthema für Journalisten“ (Soldatenchef Stoltenberg). Aber die Geister, sie sind gerufen.

Abschaffen wollen die Wehrpflicht die Jungliberalen, ebenso manche SPD-Abgeordnete. Selbst der Direktor des Sozialwissenschaftlichen Institutes der Bundeswehr, Professor Bernhard Fleckenstein, sagt: „Die heilige Kuh muß geschlachtet werden.“ Zur Jahrtausendwende, wettet er, wird die Bundeswehr nur noch eine Freiwilligenarmee sein. Andere, wie der Genosse Manfred Opel, immerhin hoher Ex- Offizier, wollen die Wehrpflicht in Friedenszeiten ruhen lassen. Aus der FDP kommt der Vorschlag, die Dienstzeit weiter zu kürzen (auf neun Monate) und eine Wehrsteuer für Dienstlose einzuführen — „Plattfußsteuer“, höhnen die Kritiker und argumentieren, damit könnten sich Reiche vom Dienst freikaufen.

Viel gravierender indes sind die Vorschläge in entgegengesetzter Richtung; sie fordern einen neuen Pflichtdienst. Sein Name könnte sein: Soziales Pflichtjahr oder Ergänzungsdienst — nach dem Motto: Alle müssen was tun, weil es nur so gerecht zuginge. Auch SPD-Politiker stellen Forderungen nach einem neuen Zwangsdienst, etwa der Abgeordnete Florian Gerster. Er will eine Allgemeine Dienstpflicht für „Aufgaben im Umweltschutz und Aufbaudienste in Ostdeutschland“. Am weitesten vorgeprescht ist der CDU- Abgeordnete Paul Breuer. Er bestellte bei den „Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages“ eine Studie über das Thema Wehrgerechtigkeit bis zum Jahr 2000, die seine Forderungen nach einem „12monatigen Ergänzungsdienst“ untermauern sollen. Pikant daran ist zweierlei: Erstens fertigte die Studie ein Oberstleutnant von der Hardthöhe an; und zweitens bestritt die „CDU-Arbeitsgruppe Verteidigung“ nach ersten Presseberichten dreisterweise die Existenz des Papiers. Diese Studie liegt nun der taz vor.

Bis zu 357.000 Wehrpflichtige, heißt es darin, werden demnächst pro Jahr ungeschoren davon kommen. Für Breuer ein Fanal: „Die Bundeswehr benötigt nur noch jeden Zweiten!“ Da gingen „Wehrgerechtigkeit und Wehrmotivation“ flöten, folglich müßten neue Aufgaben her: „Diejenigen, für die die Bundeswehr keinen Platz hat, werden Aufgaben im Ergänzungsdienst finden.“ Besonders erzürnt es ihn, daß heute schon fast ein Viertel aller Wehrpflichtigen untauglich gemustert werden. In seinem Arbeitsdienst könnten viele von diesen, bei modifizierten Musterungskriterien, Verwendung finden. Denn, so die Logik: Wer zu malade zum Schießen ist, kann immer noch den Wald fegen oder Kranke zwangspflegen.

Auch in der Union sind nicht alle glücklich über ihren vorschnellen Abgeordneten. Nicht sehr durchdacht seien die Vorschläge, sagt ein kritischer Parteikollege. Auch der zuständige Staatssekretär Peter Hintze im Jugendministerium lehnt solche Zwangsdienste vehement ab (siehe Interview). Offenbar hat sich Breuer von den Zahlenjongleuren der Hardthöhe massiv hinters Licht führen lassen. Der Vorsitzende der Bremer Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer, Pastor Ulrich Finckh, sieht in den Berechnungen „massenweise abenteuerliche Behauptungen, falsche Zahlen, völligen Schwachsinn, das Ding ist voller Klopse“. Man könne „platzen, wenn man diese Milchmädchenrechnungen liest“.

Finckh weist ganz offenkundige Fehler nach, die darauf hinauslaufen, daß die Zahl der Nichteinberufenen noch viel höher sein wird als behauptet, die Wehrungerechtigkeit also noch stärker zunimmt, „als Leute wie Breuer und Gerster behaupten, die gar nicht wissen, wovon sie reden“. Auf den ersten Blick scheint diese Aussage in die falsche Richtung zu laufen und den neuen Ergänzungsdienst-Befürwortern in den Kram zu passen. Finckh aber sagt: „Wehrgerechtigkeit ist überhaupt nicht mehr herstellbar.“ Schon in den vergangenen zehn Jahren habe eine Million junger Männer nirgends gedient. Jetzt, nach dem Scheitern des Warschauer Paktes, sagt Finckh, „ist die Wehrpflicht politisch nicht mehr zu rechtfertigen“. Darüber hinaus sei sie auch nicht mehr verfassungsrechtlich haltbar, denn nur bei einer hinreichend hohen Wehrgerechtigkeit, hat das Verfassungsgericht 1978 gesagt, dürfe es eine Wehrpflicht überhaupt geben.

Was klarmacht, daß die Bundeswehr mit falschen Berechnungen und Prognosen die Situation schönen will. Ungerecht sei es in erheblichem Maß schon immer zugegangen: Verweigerer werden seit jeher schon zu annähernd 100 Prozent zum Zivildienst einberufen, Soldaten dagegen bei weitem nicht so häufig in die Kasernen. Administrative Wehrdienstausnahmen und, so Finckh, „beliebige Manipulationen der Bundeswehr mit Zurückstellungen und Musterungsanforderungen je nach Jahrgangsstärke“ hielten seit Jahren den schönen Schein von der Wehrgerechtigkeit aufrecht.

In der Breuer-Studie wird ein besonders täuschendes Schlupfloch favorisiert: Alles werde gerechter, wenn die Hardthöhe junge Männer nur noch bis zum 25. Lebensjahr einzieht. Als ob es einen Unterschied macht, ob bis 28 nur ein kleiner Teil eingezogen wird oder bis 25 ein etwas größerer und die älteren sowieso nicht. Die Zentralstelle rechnet darüber hinaus aufgrund neutraler wissenschaftlicher Studien nach, daß Zivildienstleistende zwar betriebswirtschaftlich billig sind, volkswirtschaftlich jedoch wegen des enormen Verwaltungsaufwandes teurer als tariflich bezahlte Kräfte. Neben einem neuen Zwangsdienst, der mit unmotivierten Leuten nicht mal eine Besserung des Pflegenotstandes bringen könne, kämen noch einmal Milliardenkosten für ein Ergänzungsdienst-Bundesamt hinzu. Wehrpflicht und Wehrgerechtigkeit passen einfach nicht mehr zusammen. Für Finckh bleibt da nur eine Schlußfolgerung: „Alle Zwangsdienste müssen weg!“