KURZESSAY
: Die Zählebigkeit des Milieus

■ Die SPD verfehlt entscheidende Fragen einer zukunftsorientierten Politik

Ein „Traumergebnis für Oskar Lafontaine“ hätten die Medien aus Bremen vermelden können, wäre der gescheiterte Kanzlerkandidat nach seiner Niederlage nicht in einer Mischung aus Panik, Erschöpfung und Stolz in die Karibik entfleucht. Der fulminante Tribun, der im letzten September den Berliner Parteitag euphorisierte, obwohl schon allen klar war, daß es nichts mehr zu gewinnen gab, hätte es auch diesmal wieder geschafft. Allein aus Dank für seine frühzeitige Miseren-Prophetie und dafür, daß er die historische Niederlage tapfer wegsteckte, wäre er an die Spitze gewählt worden. Mit seiner schonungslos-zielsicheren Kritik an der Bundesregierung hätte er überdies der versammelten Sozialdemokratie den Machtwechsel in greifbare Nähe suggeriert. Antizipation ist schließlich sein Metier.

Ein neuer Enkel als Hoffnungsträger

Gleichviel, jetzt macht es Engholm. Die SPD kreiert sich ihre Hoffnungsträger. Seit Mittwoch ist es an Engholm, den Generationswechsel an der Spitze der SPD zu verkörpern. Denkt man an Kohl und die sterile Leere nach der systematischen Vertreibung der Querdenker aus der CDU, kommt einem am Ende gar Volker Rühe in den Sinn, dann ist die Wahl Engholms für sich genommen schon ein Signal. Daß es genausogut Lafontaine hätte werden können, vergrößert das Dilemma der Union nur weiter. Die Vorstellung, Helmut Kohl werde bei der nächsten Wahl gegen Engholm — gar gegen ein Gespann Engholm/Lafontaine — bestehen, hat etwas Absurdes. Wo der politische Kontrahent so alt aussieht, wirkt einer wie Engholm allein schon als Programm.

Auf diesen Vorteil hat sich der neue Vorsitzende in Bremen jedoch nicht verlassen. Vielmehr hat er seiner Partei eine Entwicklungsperspektive zugemutet, die — ließe sie sich realisieren — das Ende der alten SPD bedeutete. Nicht klargemacht hat er den Delegierten allerdings, was sie an vertrauten Orientierungen, an weltanschaulich-dogmatischem Restbestand und Freund- Feind-Reflexen aufgeben müssen, bis die SPD das Forum abgibt, in dem die zentralen gesellschaftlichen Fragen rückhaltlos verhandelt werden können. Auch, daß die klientelgesteuerte Problemsicht nicht länger den Zugang der SPD zur Wirklichkeit verstellen darf, ließe sich aus Engholms flächendeckendem Reformansinnen vielleicht erahnen. Formuliert, geschweige denn eingefordert, wie es in der Logik seiner Partei-Vision läge, hat er es nicht. Wehtun — da unterscheidet er sich von Lafontaine — ist (noch) nicht seine Sache.

Programmatische Unschärfen

Statt dessen hat Engholm in einem gigantischen Integrationsakt jede provokative Facette seines Programms sinngemäß mit einem „jedoch auch weiterhin“ abgefedert und zurückgenommen. Wo er die neue Unternehmergeneration umgarnt, sind die Gewerkschaften nicht weit, wo er die Solidarität mit dem Osten verspricht, muß dem Arbeiter im Westen doch nicht bange sein, wo er eine Verantwortungsethik für das größer gewordene Deutschland propagiert, tut er es so, daß sich am Ende auch prinzipientreue Pazifisten irgendwie heimisch fühlen können.

Der Hang zur Integration ist einer der wirklich sympathischen Züge des Björn Engholm. Das wirkt weder aufgesetzt noch taktisch motiviert, sondern authentisch, eine Lebenshaltung. Doch der alles dominierende Hang zur Moderation, die kultivierte Bedächtigkeit, der immer verständnisvolle Blick könnten Engholm schnell an den Rand der Oberflächlichkeit drängen. Er hat in Bremen seiner Partei die Kulturrevolution angedroht und ihr zugleich suggeriert, es ginge alles seinen gewohnten sozialdemokratischen Gang.

Selten ist ein derart hoher Anspruch auf einem derart niedrigen Problematisierungsniveau vertreten worden: keine Risiken, keine Kämpfe, keine Seilschaften, keine Schnitte. Die SPD als gigantische Zukunftswerkstatt, in der Konzernchefs und kritische Intelligenzler, Ökologen und Gewerkschaftsfunktionäre sich im herrschaftsfreien Diskurs über ihre gemeinsamen Interessen verständigen, so ließe sich das beinahe allumfassende, aber konturlose Projekt auf den Begriff bringen.

Welche SPD — Welche Zukunft?

Jedenfalls hat es Engholm versäumt, sein Projekt auf dem Parteitag mit der Wirklichkeit des sozialdemokratischen Milieus zu konfrontieren. Er setzt sich damit der Gefahr aus, sehr schnell zum ersten Traumtänzer der Partei herabgestuft zu werden. Die Alternative: er läßt — belehrt durch die Zähigkeit des 128jährigen Traditionsvereins — seine Pläne fahren und zieht sich aufs gebremste Pathos sozialdemokratischer Sonntagsreden zurück. Die schöne Formel, mit der er dann das Ende des hochfliegenden Projekts signalisieren wird, ist ja schon da: Erneuerung mit Bodenhaftung. Oder — für richtig Traditionsbewußte — die ewig junge Aufmunterung zum Abschluß des Parteitages: „Mit uns zieht die neue Zeit.“

Zwei Proben auf ihre Zukunftsfähigkeit hatte die SPD in Bremen zu bestehen: deutschlandpolitisches Profil und die Blauhelm-Entscheidung. Zu behaupten, der Parteitag habe die Chance für die Formulierung einer neuen Einheitspolitik verpaßt, wäre eher eine dumme Untertreibung. Die Diskussion war ein Fiasko, Raus Eröffnungsrede eine Frechheit. Derart hohles Pathos, mit dem zähen Unterton der politisch- moralischen Überlegenheit ist auch von Helmut Kohl, dem Watschenmann der meisten SPD-Redner, nicht zu überbieten. Rau reproduzierte, stellvertretend für viele West- Delegierte, die Steuerlüge der Regierung — auf sozialdemokratisch. Das Versprechen auf Solidarität, gemeinsam-gewaltige Kraftanstrengungen hin zur gesellschaftlichen Einheit, die große Umverteilung, werden in Aussicht gestellt, um dann unvermittelt in den tradierten Konfliktschemen der Westpartei bearbeitet zu werden. Arbeitszeitverkürzung im Westen, ohne Lohnausgleich — im Gegenzug Schaffung von Arbeitsplätzen im Osten? — Wie kompliziert solche Ansätze auch immer umzusetzen wären, daß die Sozialdemokraten-West sie nicht einmal aufgreifen, sich statt dessen mit ihren „Pawlowschen Reflexen“ — Besitzstandswahrung, Regierungsschelte und der Forderung nach Staatsintervention — begnügen, ist schon mehr als nur ein Armutszeugnis. Es diskreditiert schlichtweg ihren Bezug auf die politische und moralische Tradition ihrer Bewegung. Eine Spur des Unbehagens darüber, daß sich die SPD nicht zutraut, auch die Interessen ihrer eigenen Klientel fürs eingeforderte Teilen zu hinterfragen, findet sich dann in den herausragenden Wahlergebnissen für die authentischen Vertreter der Ostdeutschen, Regine Hildebrandt und Wolfgang Thierse. Das schmälert die Bedeutung der Voten. Eher schon sind es Gesten der Selbstentlastung.

Vor nichts hatte die Parteispitze mehr Angst, als daß ihr erhofftes deutschlandpolitisches Signal unter einer eskalierenden Blauhelm-Debatte begraben würde. Das Paradox: Die Blauhelm-Debatte geriet am Ende zur inhaltlichen Kompensation des mißlungenen Deutschlandpalavers. Hier, so schien es, konkretisierte sich Engholms Perspektive auf eine rückhaltlos streitbare SPD, während die Einheitsdebatte zuvor das Wunsch-Profil einer „offenen Partei“, jenseits angestammter Interessenpolitik ad absurdum führte. Damit gab der Parteitag eine eher zwiespältige Antwort auf die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Engholm-Projektes. Braucht die Partei einen Moderator, oder — durchaus im Sinne von Engholms Vision — nicht doch eher einen Provokateur, der Fronten aufreißt und die Partei zwingt, neue Positionen zu entwickeln? Müßig darüber zu spekulieren, mit welchem Programm sich Lafontaine zum Parteichef hätte wählen lassen. Doch unter seiner punktgenauen, insistenten Konfliktfähigkeit hätte man sicherer prognostizieren können, wie und wohin sich die SPD bewegen wird. Sollte es Engholm gelingen, Lafontaine für sein Projekt zu gewinnen — was letztlich auf den Doppelvorsitz hinausliefe —, dann könnte der Generationswechsel am Ende doch mehr bedeuten als der eloquent aufbereitete Versuch einer Konservierung der SPD in den Zeiten des deutschen und europäischen Umbruchs. Matthias Geis