: Kunst ist Politik
Die internationale Revue „i10“ und Laszlo Moholy-Nagy — zwei Ausstellungen in Kassel ■ Von Jörg Stürzebecher und Ursula Wenzel
Ihr Name: i10, „eine internationale Revue“. Zwischen 1927 und 1929 gab der sozialistische Anarchist Arthur Lehning die Zeitschrift heraus, deren Titel mittlerweile in differenzierenden Fassungen gelesen wird: Was wie die Bezeichnung eines Maschinenbauteils klingt, kann auch als Abkürzung einer „zehnten Internationale“ gelesen werden, die Weite und Vielfalt revolutionärer Gestaltungsmöglichkeiten nach der ersten, zweiten, dritten Internationale postulierend. Sicher ist nur, daß Buchstabe und Ziffern in verschiedenen europäischen Sprachen zwar unterschiedlich ausgesprochen werden, aber ein und dasselbe Produkt bezeichnen. Laszlo Moholy-Nagy gestaltete den Titel für das Amsterdamer Zeitschriften- Experiment, dessen Texten jeweils englische, französische, deutsche oder niederländische Zusammenfassungen beigegeben waren.
„Revue“, Rückschau, das war auch Reflex auf die Internationalisierung (und Industrialisierung) der Künste wie auch der Politik; das „neue Bauen“ oder die „neue Typographie“ waren nicht an ein Land gebunden, sondern wurden von ihren Produzenten als universelle Gestaltungsmittel zur Konstruktion der neuen Gesellschaft verstanden. In i10 wurde dieser Zusammenhang von Kunst und Gesellschaft immer wieder dargestellt. Nicht Villen, sondern Siedlungsbauten, helle Fabriken und stadtplanerische Modelle, nicht Einzelleistung, sondern neue Systeme, ob beim Film oder der sprachgerechten Schrift. Die neue Welt als neue, nicht länger hierarchische Ordnung wurde gerade auch in der Gestaltung der Zeitschrift ihren überraschenden Bild-Text-Montagen, ihrer streng asymmetrischen Typographie dem alten, kapitalistischen Chaos gegenübergestellt.
Der Wunsch nach humaneren Ordnungen findet sich in Mondrians Bildern ebenso wie in Walter Benjamins Aufsatz über Kraus, in dem dessen sprachliche Untersuchungen in der 'Fackel‘ als Beiträge zur Strafprozeßordnung begriffen werden.
Die kleine Schau im documenta- Archiv in Kassel — ein Text-Bildband zu i10 ist in Vorbereitung, die erste Publikation zu diesem interdisziplinären Forum in deutscher Sprache überhaupt — bietet viel Anschauungs- und leider zu wenig Lesematerial. Zwar ist einiges zu den Querelen inner- und außerhalb der Redaktion zu erfahren, etwa wenn Piet Mondrian an J.J.P. Oud am 22.5.1926 schreibt: „Lehning hat (unter uns gesagt) Stam nicht so gerne in der Leitung, weil Stam immer noch ausgesprochener Kommunist ist.“ Der Rotterdamer Stadtbaurat Oud war überdies politisch so vorsichtig, daß er Lehning vorschlug, die Politik doch aus der Zeitschrift auszugliedern; Mart Stam, radikaler Konstrukteur-Architekt, war ein wichtiger, im Gegensatz zu Oud aber nicht bestimmender Architektur-Mitarbeiter von i10; eine für 1991 angekündigte Retrospektive wurde gerade durch das Deutsche Architektur-Museum Frankfurt auf unbestimmte Zeit verschoben.
Insgesamt bleibt die Ausstellung sehr künstlerbezogen, die Politik in i10 unterrepräsentiert. Dabei lag das Besondere von i10 gerade in der Breite der behandelten Themen: Die Architekten suchten in den Kommunalverwaltungen nach Auftraggebern, die politischen Organisationen der Arbeiterbewegung erkannten die Intellektuellen als potentielle Bundesgenossen, traditionelle politische oder kulturelle Zeitschriften waren für die Diskussionen kein Medium, in dem sich die divergierenden Ansprechpartner hätten zusammenfassen lassen. i10, das bedeutete Verpflichtung zur Diskussion, nicht zu Partei oder Verein, und Solidarität statt Konkurrenz.
Mit der Krise ab 1929 kam auch das Ende der Zeitschrift. Arthur Lehning suchte in der Schweiz nach einem Verlag, dort aber lehnte man ab: Sigfried Giedion, der 1927 in der 'Frankfurter Zeitung‘ noch das Erscheinen der ersten Nummer begrüßt hatte, plane selbst eine Zeitschrift mit vergleichbaren Themen; jedoch wurden beide Vorhaben, die Weiterführung der einen und die Neugründung der anderen Zeitschrift, nicht in die Tat umgesetzt.
Nichts dokumentierte das seitherige Dilemma zwischen Kunst und Politik besser als die Eröfffnungsveranstaltung der Ausstellung, die zugleich Bestandteil eines Kongresses über Die Konstruktion der Utopie war. Arthur Lehning erinnerte anläßlich der Ausstellungseröffnung die Begegnungen mit seinen wichtigsten Mitarbeitern; beim anschließenden Gespräch zwischen Lehning und Hubertus Gaßner, dem Organisator von Ausstellung und Kongreß, und Uli Bohnen, dem Geschichtsschreiber der „Kölner Progressiven“, einer libertären Künstlergruppe der zwanziger Jahre, ging es wieder nur um Politik. Für die Ausstellungsbesucher die Anekdoten, für die abendlichen Interessenten die politische Geschichtsschreibung. Lehning selbst war irritiert und teilte später mit, er habe gehofft, Hans Magnus Enzensberger als Interviewer zu bekommen. Er, Lehning, hätte dann nämlich Enzensberger gefragt, ob dieser immer noch der Meinung sei, wir würden Lehning brauchen, da Enzensbergers 'Zeit‘-Artikel zum Golfkrieg doch eine Aufgabe früherer gemeinsamer Positionen sei. Solche Fragen — sie wären jene erhoffte Verbindung von Kunst und Politik gewesen, allein, der Kongreß kam ohne sie aus.
Das hatte Enttäuschungen auf seiten der Kongreßbesucher zur Folge, war doch aufgrund von Plakat, Ausstellungseröffnung und abendlichem Gespräch eine Veranstaltung zu erwarten, die sich mit der Singularität von i10 auseinandergesetzt hätte. Was folgte, waren überwiegend Standardvorträge, den Publikationen der Referenten entnommen und dem Thema Konstruktion der Utopie angepaßt. Das dürre Ergebnis zweier Tage: Politik ist das eine, Utopie das andere, dazwischen verlieren die Künste und Künstler durch Anpassung an vermeintliche Realitäten ihre Identität.
Das alles war nicht besonders neu, gelegentlich — wie bei Karin Wilhelms Vortrag zur Architektur des Bauhauses — von bemerkenswerter politischer Naivität (wenn etwa Walter Gropius' These, die Bauplanenden um 1920 seien Wegbereiter des kommenden, großen Architekten, als positive Utopie präsentiert wird); vor allem aber blieb es weit hinter der Konzeption von i10 zurück.
Aber zum Glück bietet Kassel über diesen Kongreß hinaus die Gelegenheit, die Moderne im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft zu befragen. Neben der Gustav-Klucis-Retrospektive (siehe taz vom 24.4.91) zeigt das Fridericianum — laut eigener Aussage — nicht mehr „nur den sozial engagierten Konstruktivisten, sondern den Visionär der Moderne“ Laszlo Moholy-Nagy mit einer großen Anzahl erstrangiger Exponate.
Fridericianum-Leiter und Ausstellungsmacher Veit Loers weist in seinem klugen Katalogbeitrag auf die Verbindung zu Paul Scheerberts Perpetuum-mobile-Buch von 1919 wie auch auf den Einfluß der Mazdaznan- Lehre auf Moholy-Nagy und das frühe Bauhaus hin. Die Verbindung des Perpetuum mobile mit dem Lichtkult von Mazdaznan, dessen Religionslehre sich zwischen lebensreformerischem und rassistischem Ideengut bewegt, führt bei Moholy- Nagy zu einer Veränderung seines kunst-praktischen Energiebegriffs. Was 1920 noch mechanistisch mit Dampfmaschinen bewegt werden soll, wird nach dem Übergang vom Tafelbild zum dreidimensionalen Gerät elektrifiziert, miniaturisiert, entmaterialisiert. Bewegungsenergien werden in Lichtgestaltung umgesetzt, in den Plexiglaskonstrukten der vierziger Jahre kommt die Bewegung des Lichts von außen auf den Gegenstand, der ohne Motor durch die Veränderung des Betrachterstandpunktes das Licht immer wieder anders reflektiert. Sicher sind da keine parteipolitischen Aussagen abzuleiten, wohl aber ist eine Entwicklung von Geradlinigkeit zu Polyfunktionalität, eine Änderung der Betrachteraktivität vom Vorstellen über das Wahrnehmen zur Interaktivität, mithin eine Aufforderung zur Emanzipaton von tradierten Bildvorstellungen zu konstatieren. Daß vieles der Ausstellung dekorativ scheint, steht dem Erkennen solcher gesellschaftsdeterminierenden künstlerischen Begriffe nicht entgegen.
—Ausstellung i10 im documenta - Archiv, Untere Karlsstraße4, noch bis 9.6.; Katalog und Kongreßbeitragsband in Vorbereitung
—Gustav-Klucis-Retrospektive noch bis 16.6. verlängert
—Moholy-Nagy-Retrospektive noch bis 16.6.; beide im Fridericianum, Friedrichsplatz; Katalag Moholy-Nagy 60,- DM
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