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Schnaps mit zwei Mündern trinken

■ Obdachlose spielen sich selbst/ Theaterstück »Untergang« in der Ostberliner Parochialkirche

Berlin. »Du läufst und du läufst

und dein Hunger bleibt groß

Ja, du, du warst schon als Kind obdachlos«

(Klaus Lenuweit)

Angeregt vom Auftritt der schottischen Obdachlosentheatergruppe »Grassmarket Project« im Januar initiierte Rainer Röpke mit organisatorischer Unterstützung des Bezirksamts Berlin Mitte ein Berliner Gegenstück. Seit Anfang des Jahres probten 15 Obdachlose aus beiden Teilen der Stadt mit fünf professionellen SchauspielerInnen den Untergang, der am Sonntag in der romantisch-desolaten Parochialkirche seine umjubelte Premiere erlebte.

Theatralischer als das Theater sei das Leben der Obdachlosen, Abhängigen, Verlassenenen, Bedrohten, schreibt der Regisseur des Stücks, Bernard Wind, im Programmheft. Untergang beginnt mit der Schwelle, die das gesicherte Leben von der Obdachlosigkeit scheidet: Ein alter Mann, Heinz Kreitzen, schubst wütend die Zuschauer, die zwischen wartenden Obdachlosen mit Bittschildern aus Pappe einzeln und kulturinteressiert in die Parochialkirche träufeln. Zehn Bilder und Szenen reihen sich aneinander. Fest umrissen — als Frau vom Sozialamt, als arrogante Tante vom Heiratsvermittlungsinstitut, als ausgebeutete Putze am Bahnhof, als Taubstumme, die im Gefängnis ihren Mann besucht, als Gefängniswärter, als Bahnbulle, als Pförtner im Asyl — bereiten die Profis den Boden, auf dem das Spiel der Laien begeisternd lebendig wird. Die Obdachlosen wiederholen, variieren, verwandeln die Demütigungen, denen sie beim Arbeits- oder Sozialamt, im Asyl, aber auch untereinander passiv ausgesetzt sind, und werden als Schauspieler, die ihr Leben spielen, zum Subjekt ihrer eigenen Geschichte. Der »Landstreicher« bewahrt seine Würde vor den Rassismen im Obdachlosenheim dadurch, daß er als »Bananen-Joe« den Urwaldaffen macht, für den sie den »Neger« halten. Mit einer Intensität und Fülle, die nur wenigen Schauspielern eigen ist, füllt seine Stimme die Kirche.

Mal sind die Obdachlosen ungeheuer komische Volksschauspieler mit einem Hauch von Harald Juhnke — »32Umdrehungen« hat der Schnaps, den sie am liebsten mit zwei Mündern trinken würden —, mal sind sie eindringliche Dichter des Exils oder Asyls, Menschen vor allem, die ihrer Sehnsucht nach Leben authentischen Ausdruck geben können. Allerdings wirken die existentialistischen Lebensweisheiten und allgemeinen Metaphern angesichts des oft improvisierten Spiels ein wenig künstlich. Die eindringlichste Sprache formt sich vielleicht erst im Überleben derer, für die das eigene Leben oft nur »lebenslänglich« heißt. Die Obdachlosen gaben den begeisterten Zuschauern mehr als das, was diese ihnen auf der Straße vermutlich verweigern würden. Zumindest im Theater revanchierten sich die Zuschauer: Nicht enden wollender Beifall ließ einen der Obdachlosen von der Bühne schweben; der »dicke Kloß« der Aufregung im Hals der anderen allerdings begann sich erst später im Bier der Premierenfeier aufzulösen, das Jupiter zuweilen kundig mit seinen Zähnen öffnete. Wer nicht wußte, ob er glücklich lachen oder weinen sollte, legte stattdessen seinen Kopf an die starke Schulter des Nebenmanns. Detlef Kuhlbrodt

Der Untergang ist, außer montags, noch bis zum 16. Juni täglich ab 20 Uhr in der Ostberliner Parochialkirche (U-Bhf. Klosterstraße) zu sehen. Eintritt: 12 DM, ermäßigt 8DM. Vorbestellungen unter Tel. 4526124 (West).

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