: Träume von Groß-Israel, Depression der Intifada
■ Israels Unterdrückung der Intifada hat zur Brutalisierung der palästinensischen Gesellschaft geführt. Die Jagd auf "Kollaborateure" trägt Merkmale von Selbstzerfleischung.
Die Palästinenser unter israelischer Besatzung beginnen sich langsam vom Schock zu erholen, der sie am Ende des Golfkrieges erfaßte. Die verzweifelte Suche nach einer Erklärung für die wieder einmal so demütigende Niederlage einer arabischen Armee, auf die sie ihre Hoffnungen gesetzt hatten, hatte in den ersten Wochen danach mit einer kollektiven Depression geendet, die wie eine Wolke monatelang über der Westbank und dem Gazastreifen hing. Inzwischen ist man wieder zu Bewußtsein gekommen, aufgewacht und muß die trostlose Tatsache konstatieren, daß man wieder einen Krieg verloren hat. Mit den Konsequenzen aus der Niederlage wird man leben müssen.
Von der Intifada, dem Aufstand gegen die Besatzung, der Anfang Dezember 1987 im Flüchtlingslager Dschebalja im Gazastreifen ausbrach, ist nicht viel übriggeblieben. Die politisch Denkenden unter den Palästinensern, die sich schon von Anfang an bewußt waren, daß die Intifada kaum zur Beendigung der israelischen Besatzung, geschweige denn zur Gründung eines palästinensischen Staates, führen würde, sahen immer die größte Leistung des Aufstandes darin, daß er den Palästinensern zum ersten Mal das Gefühl gegeben hätte, sie könnten über das eigene Schicksal mitbestimmen. Aber auch dieses Gefühl schwindet jetzt langsam unter der erdrückenden Realität. Denn abgesehen vom zeitweiligen Aufsehen, das die Intifada in den internationalen Medien erregte, als die ersten Steine zu fliegen begannen, hat der Aufstand am Ende nur eines gebracht: eine allgemeine Verschlechterung der Lebensbedingungen unter einer Besatzung, die in diesen Tagen ins 25. Jahr geht und jetzt auswegloser denn je erscheint.
In Dschebalja, dem größten der Flüchtlingslager im Gazastreifen, merkt man heute nichts, was verraten könnte, dies sei vor nicht allzu langer Zeit das Zentrum eines Volksaufstandes gewesen. Die Spannung in der Luft ist weg, man fährt durch die Häuserblocks, ohne an jeder Ecke zu anzuhalten, um sich zu versichern, daß der Weg von Soldaten frei ist. Das Leben ist zur Normalität zurückgekehrt: Frauen in ihren langen bestickten Kleidern wandern nach dem Einkauf am Markt durch die sandigen, ungeteerten Straßen mit Plastikkörben auf dem Kopf; unzählige Kinder spielen im Sand zwischen den Eselskarren, Müllhaufen und offenen Kloaken. Die Männer sitzen herum. Nachdem die Einreise von palästinensischen Arbeitern nach Israel eingeschränkt wurde, liegt die Arbeitslosigkeit bei etwa 50 Prozent.
Maskierte Banden immer eifriger auf Verräterjagd
In Dschebalja ist es vor allem die UNRWA, die United Nations Relief and Works Agency, die sich seit 40 Jahren um die palästinensischen Flüchtlinge kümmert, dafür sorgt, daß auch diejenigen, die in Israel nicht mehr arbeiten dürfen, nicht verhungern. Nicht weit entfernt von einer UNRWA-Klinik gibt es eine kleine Apotheke. Unter den Männern, die dort vorbeischauen, sich auf einen Stuhl hinter der Theke setzen und einen Kaffee aus der Thermosflasche einschenken lassen, ist Saki al-Aileh, 40, Lehrer an der UNRWA-Schule. Er hat zehn Minuten frei zwischen Unterrichtsstunden. „Selbst Baker beschwert sich schon über die Israelis, daß sie ihn bei jedem Besuch mit der Gründung einer neuen Siedlung auf der Westbank begrüßen“, resümiert er die derzeitige politische Lage. „Wenn sich Schamir nicht scheut, den Amerikanern, die ihm helfen, immer wieder eine Ohrfeige zu erteilen, wie glauben Sie, daß er mit uns umgehen wird?“ Eigentlich ist al-Aileh Schriftsteller. Er schreibt Kurzgeschichten, die sich wegen der militärischen Zensur zur Zeit nicht veröffentlichen lassen. Sie erzählen vor allem vom Alltag im Lager — wie sich die Besatzung und die Intifada auf die einfachen Leute auswirken, was aus ihnen wird, wenn ein Sohn erschossen oder verhaftet, das Haus demoliert wird; wie es sich lebt, wenn das Lager wochenlang unter Ausgangssperre gestellt ist; was passiert, wenn sich die politischen Gruppierungen zu streiten beginnen, wenn die Führung die Kontrolle über die Massen verliert. Über ein Thema hat al-Aileh allerdings noch nicht geschrieben: die Kollaborateure. Seine Gedanken darüber seien noch nicht gereift. Dabei ist dies wahrscheinlich das heikelste Problem, das die Palästinenser in Gaza zur Zeit beschäftigt. Die meisten Kollaborateure sind von der restlichen Bevölkerung als solche schon bekannt. Sie liefern gegen Privilegien oder Drogen, oder auch weil sie erpreßt werden — mit der Verhaftung eines Sohnes etwa — Informationen an die Besatzungsmacht. Viele Aktivisten wurden nur mit Hilfe von Kollaborateuren erwischt, verhaftet oder erschossen — beim Fluchtversuch, wie es dann immer offiziell heißt. Die palästinensischen Mitarbeiter der Besatzung erhalten oft Waffen von der Armee und setzen sie auch ein. Als vergangene Woche in Nusseirat, einem der kleineren Flüchtlingslager im Gazastreifen, ein bekannter Kollaborateur von einer Gruppe Nachbarn bedroht wurde, warf er eine Handgranate in die Menge. Dabei wurde ein 17jähriger Junge getötet, 20 weitere wurden verwundet.
Fast alle Palästinenser sind sich darin einig, daß den Kollaborateuren das Handwerk gelegt werden muß, nur der zunehmende Eifer der maskierten Banden, die dafür zuständig sind, löst immer mehr Unbehagen aus. Inzwischen wurden über 400 Kollaborateure ermordet, meist mit einer Brutalität und Grausamkeit, die weit über das angebliche Ziel der Abschreckung hinausgingen.
Zurück zur Normalität des Ausnahmezustandes
Während in manchen Fällen die Strafe als ungerecht angesehen wird — das Vergehen mancher Opfer sei nicht so schlimm gewesen, daß sie dafür hätten exekutiert werden müssen — herrscht unter den Palästinensern noch immer die Überzeugung, daß Entscheidungen über das Schicksal von Kollaborateuren von der im Untergrund agierenden politischen Führung nach ihnen bekannten Regeln getroffen werden. Dennoch wächst die Angst, daß dies nicht viel länger der Fall sein wird, daß die Aggression gegen die Besatzung sich bald nach innen richten wird und private Fehden unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Kollaboration ausgetragen werden. In letzter Zeit stellte sich heraus, daß es in der Stadt Gaza Gruppen gibt, die ganz gewöhnliche Diebstähle ungehindert durchführen, indem sie sich wie die maskierten Kommandos verkleiden, die gegen Kollaborateure vorgehen und die niemand aufzuhalten wagt. Daß die Armee jemals in solchen Fällen zur Stelle gewesen sei, ist nicht bekannt.
Überhaupt ist die Präsenz der Armee im Laufe des vergangenen Jahres zurückgegangen. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Jitzhak Rabin hat der derzeitige Verteidigungsminister Moshe Arens begriffen, daß das häufige Patroullieren der Soldaten nur als Provokation aufgefaßt wurde. Zur Zeit sieht man also Soldaten meist nur an den vielen Sperren auf der Hauptstraße, die über die 40 Kilometer von der israelischen Grenze des Gazastreifens im Norden zur ägyptischen Grenze im Süden führt. Auch die neuen Militärbasen, die seit dem Ausbruch der Intifada im Gazastreifen errichtet wurden, liegen entlang dieser Straße. Die Soldaten verlassen sie hauptsächlich, um gezielt Verhaftungen vorzunehmen, nachts, wenn die Ausgangssperre in Kraft tritt. So bleibt die Stadt Gaza zumindest tagsüber ruhig. Zwischen den Trümmern des verlorenen Krieges versucht man, wieder etwas Normalität ins Leben zu bringen. Immer weniger Ladenbesitzer halten sich an die Anweisungen der Intifada-Führung, die Geschäfte um Punkt zwölf Uhr mittags zu schließen. Die wirtschaftliche Lage hat sich zu sehr verschlechtert, als daß man sich Streiks leisten könnte. Die israelische Zivilverwaltung will Schritte unternehmen, um die lokale Wirtschaft in Gang zu bringen, die Zahl der Genehmigungen erhöhen, die an Kleinunternehmer erteilt werden. Man denkt auch an eine Steuererleichterung, erklärte vor kurzem der Leiter der Zivilverwaltung, Brigadegeneral Schiffmann, einer Gruppe von palästinensischen Journalisten. Nur: die neuen Regelungen, die geplant werden, würden die Steuereinnahmen aus Gaza um etwa 30 Millionen Dollar kürzen, und ein Weg müsse erst gefunden werden, diese Summe zu ersetzen. Wie dieses Geld von der Bevölkerung aufzubringen sei, ist allen ein Rätsel. Selbst die Eselskarren in Gaza werden indirekt schon versteuert — sie müssen Nummernschilder tragen, die jährlich gegen eine Gebühr von bis zu 100 Dollar auszutauschen sind.
Fast der einzige Lichtblick in der sonst trostlosen Stadt ist das neue „Gaza Community Mental Health Programm“, die einzige professionell geführte Stelle im Gazastreifen, an die sich die Bevölkerung zur Behandlung von seelischen Problemen wenden kann. Das Zentrum wurde vor einem Jahr mit Duldung, aber ohne offizielle Genehmigung der Armee eröffnet, ein paar Häuser vom Militärgericht entfernt, wo sich die Familien von Verhafteten täglich vor dem Stacheldraht versammeln, in der Hoffnung, einen Vater, Sohn oder Ehemann auf dem Weg vom Gefängnis zum Gericht zu erblicken. Vom kleinen weißen Haus aus, in dem das Zentrum untergebracht wurde, schaut man aufs Mittelmeer und den schönen Strand von Gaza, den ein amerikanischer Journalist einst „Hell's riviera“ nannte. Das Problem, das es am häufigsten zu behandeln gibt, sagt Administrationsleiter Mohamed Naja, mit einem Hinweis auf seine statistischen Tabellen, sei Depression.
Die Klinik wird durch Spenden, vor allem aus Europa, finanziert. Naja zeigt stolz die Namen der Spender. Die Liste ist in der Tat lang, die Summen allerdings eher bescheiden. Die Schweizer Regierung steuerte im ersten Jahr ganze 10.452 Dollar zum Projekt bei; die Deutsche Botschaft in Amman schaffte es, 8.695 Dollar dafür zusammenzukratzen. Im Herbst sollen mit einer größeren Spende der EG zwei weitere Zentren im Gazastreifen eröffnet werden. Naja ist derzeit auf der Suche nach einem EEG-Gerät und vor allem nach Spenden, um die laufenden Kosten für die Führung der Kliniken zu decken. Nur einige Straßen vom Mental Health Center entfernt steht das Hotel Marna House, das von Najas Mutter, Alya al-Shawa geführt wird. Am Anfang der Intifada war Marna House die inoffizielle Medienzentrale der internationalen Journalisten. Alya war dabei nicht nur für Zimmer und Verpflegung zuständig, sie vermittelte auch Begleiter und Übersetzer für die Reporter und Fotografen, die in Massen das Hotel aufsuchten. Heute sitzt sie wie immer hinter dem großen Schreibtisch im Büro. Sie beschäftigt sich damit, ein Kleid mit einem traditionellen palästinensischen Muster zu besticken. Sie habe während des Golfkriegs damit begonnen, lacht sie.
„Bei uns in Gaza wird sich nie etwas ändern“
In letzter Zeit seien wenige Journalisten dagewesen. Vor kurzem habe einer aus Holland angerufen, der im ersten Jahr der Intifada oft dort war, erzählt sie. Er wollte die Telefonnummer von Samy, der ihn damals mit seiner politischen Analyse der Lage in Gaza so beeindruckt hatte. Samy sei in AnsarIII, hat Alya erklären müssen, dem Inhaftierungslager bei Ketziot, in der Negev-Wüste. Er habe dort seit März 1989 24 Monate unter administrativer Haft verbracht, die erst vor zwei Wochen um ein weiteres Jahr verlängert wurde. Nein, einen Prozeß habe es nicht gegeben. Er sei letztes Jahr, zwischen Verhaftungen, etwa sechs Wochen frei gewesen und hätte geheiratet. Vor etwa einem Monat wurde seine Tochter geboren. Er nannte sie „Beirut“.
Auf Alyas Schreibtisch liegt das vor kurzem in den USA erschienene Buch Gaza — ein Jahr in der Intifada: ein persönlicher Bericht aus einem besetzten Land von der amerikanischen Journalistin Gloria Emerson, die 1989 über Monate hindurch im Marna House gelebt hatte.
Im Buch schreibt Emerson, die als 'New York Times‘-Korrespondentin über den Vietnamkrieg berichtet hatte, und auch sonstige Kriege und Bürgerkriege erlebte, über ihre Erfahrungen in Gaza: „Eine Besatzung so grausam wie diese ist genauso fürchterlich mitanzusehen wie ein Konflikt zwischen bewaffneten Nationen.“ Alya ist nicht sehr enthusiastisch über das Buch. Nach all den Berichten über die Intifada, von ausländischen Journalisten über das brutale Verhalten der israelischen Soldaten, von israelischen Menschenrechtsorganisationen über die Foltermethoden des Sicherheitsdienstes und selbst von israelischen Reservesoldaten über die Schreie der Häftlinge beim Verhör im Gefängnis, die alle nichts genützt haben, glaubt sie nicht, daß ein Buch mehr einen Unterschied machen wird. Für ihre Freundin Emerson, die es gut meinte, freut sie sich: „Vielleicht kann Gloria etwas verdienen“, meint sie, „New Yorker Intellektuelle werden das Buch wahrscheinlich interessant finden. Für uns in Gaza wird sich aber dadurch nichts ändern. Ich glaube, hier wird sich nie etwas ändern.“
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