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Massive Prozeßwelle in China

■ Tausende Verhaftungen in den letzten Wochen/ ai wirft Bonn Liebedienerei vor

Berlin (taz) — „Völliges Unverständnis für die zuvorkommende Behandlung, die China in jüngster Zeit wiederholt auch von Vertretern der Bundesregierung gewährt wurde“, bekundete die Menschenrechtsorganisation amnesty international (ai) am Montag in Bonn. Kurz vor dem zweiten Jahrestag des Massakers hatte in Peking der Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Siegfied Lengl, Verständnis für „seinen Freund“, Chinas Premier Li Peng, gezeigt und erklärt: „Die Geschichte hat ein hohes Opfer von diesem Ministerpräsidenten gefordert.“ Li Peng, einer der Hauptverantwortlichen des Blutbades vom 4. Juni 1989, wird das gerne gehört haben.

Eine solche Politik der Liebedienerei sei angesichts der schweren Vergehen, die sich die chinesische Führung bei der Unterdrückung jedweder Opposition zuschulden kommen lasse, ebenso unangebracht wie schädlich, erklärte ai weiter. Sie werfe ein zweifelhaftes Licht auf die „zu allen Gelegenheiten betonte Entschlossenheit der Bundesregierung, sich für die Sache der Menschenrechte stark zu machen“.

Ai legte am Montag Protest bei der Bundesregierung ein und forderte, Lengl solle in Peking öffentlich Kritik an der Menschenrechtssituation in China üben und sich für die Verbesserung der Haftbedingungen der politischen Gefangenen einsetzen.

Wie ai erhob auch die amerikanische Menschenrechtsorganisation Asia Watch schwere Anschuldigungen gegen die chinesische Regierung. In einer Ende Mai veröffentlichten 150-Seiten-Dokumentation legte sie dar, das nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung im Sommer und der nachfolgenden Repression mehr politische Häftlinge in den chinesischen Gefängnissen und Arbeitslagern einsitzen als zu irgendeinem Zeitpunkt seit dem Aufstieg Deng Xiaopings an die Macht Ende der siebziger Jahre. Schätzungen reichen bis zu 30.000 Häftlingen, die aufgrund der Repression einsitzen. Nach Angaben der chinesischen Regierung wurden in den vergangenen Wochen 1.806 Verhaftungen in Beijing vorgenommen.

Seit Jahresbeginn läuft in China die größte politische Prozeßwelle seit dem Tiananmen-Massaker. In Verfahren, die jeder Rechtsauffassung Hohn sprechen, sind mehrere Dutzend führende Persönlichkeiten der Studentenbewegung zu Gefängnisstrafen zwischen zwei und dreizehn Jahren verurteilt worden. Am schärfsten geht die Justiz gegen Arbeiter vor, die in der Demokratiebewegung aktiv waren. Sie erhielten die schwersten Urteile und leiden unter den schärfsten Haftbedingungen. Die 50 offiziell bekanntgegebenen Hinrichtungen, die auf die Ereignisse des Juni 1989 zurückgehen, wurden bis auf vier gegen Arbeiter vollstreckt.

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