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Blut und Geschichte auf der Waagschale

■ Karikaturen aus der Sowjetunion — die unbemerkte Begleitausstellung zu Kreml-Gold und Zaren-Kult im Staatsarchiv

Gorbatschow und die Perestroika haben den Alltag in der Sowjetunion verändert. Auch den Alltag der Künstler: Sie dürfen mehr, nehmen sich auch mehr heraus. Nicht nur diejenigen, die schon immer in der Subkultur und für die Schublade gearbeitet haben. Auch die Etablierten, im Künstlerverband Organisierten mit Pensionsberechtigung, sind bissiger geworden. Wie sich die Sprache der Künstler den Verhältnissen angepaßt hat, ihnen zum Teil vorausgeeilt ist, zeigt eine Ausstellung im Staatsarchiv.

„Karikaturen in der Sowjetunion“ — das sind Zeichnungen, Bilder und Cartoons, die den Alltag widerspiegeln. Auseinandersetzungen, die Künstler aus der Subkultur und aus dem anerkannten Kulturbetrieb u.a. mit der Geschichte, mit der Bürokratie, mit der Versorgungslage im Lande und dem Militär nun auch öffentlich führen — seitdem sich die autonome Presse entwickelt hat.

Da ist zum Beispiel der grimmige Fleischverkäufer mit deutlich stalinesken Zügen: Von seiner Waagschale trieft das Blut des Volkes, das er mit den ikonisierten Figuren der Geschichte aufwiegt (Sergej Savilov, 1990). Dann der Personenkult: Gnadenlos demontieren die Künstler die Helden, entlarven die hohle Fiktion der Persönlichkeit. Denkmäler werden gestürzt, fungieren nur noch als Brücke über den Abgrund (Viktor Kudin). Die Köpfe der Standbilder sind austauschbar: Der Bildhauer schraubt — je nach Bedarf — unablässig Gesichter der neuen Herrscher auf. Hinter ihm türmt sich ein Berg alter Häupter (Oleg Tesler).

Doch das Volk sucht sich neue Helden: Zunächst noch Gorbatschow. Einige Bilder der Ausstellung, die der Kasseler „Verein zur Förderung, Unterstützung und Verbreitung medienspezifischer Kultur und Kommunikation“ aus den vergangenen fünf Jahren zusammengetragen hat, zeigen ihn: wie er die auseinanderdriftenden Provinzen krampfhaft zusammenhält (Vladimir Ivanov), wie er sich die Ohren mit Glasnost-Paste putzt (Michail Slatkovskij). Doch auch sein Wert sinkt. Was die Ausstellung noch nicht dokumentiert: Sacharow hat inzwischen Einzug in die Bildsprache der Ikonen gehalten. Das erzählt Wolfgang Schlott, Kulturwissenschaftler der Forschungsstelle Osteuropa an der Uni Bremen.

Schlott ist aufmerksamer Beobachter der sowjetischen Kulturszene. Bei einem Rundgang durch die rund 170 Exponate weist er auf Lücken hin: Die Rolle der Frau z.B. bleibe unterbelichtet. Das Marienbild (von Jevgenij Osipov) zeigt jedoch die Hauptprobleme: Die Frau in ihrer Überforderung, ausgemergelt und mit blauem Auge, zwischen Kochtopf, Waschbrett und ihrem besoffen, dahindösenden Mann auf der Pritsche. Auch die Dämonisierung der Frau, zunehmend mit der Angst vor der Computerisierung der Welt verknüpft, werde hier nicht thematisiert.

Trotzdem ist die Ausstellung sehenswert. Die Bilder sprechen eine deutliche Sprache. Auch wenn die Bremer gegenüber der ursprünglichen Ausstellung in Kassel (vgl. taz vom 21.7.1990) Defizite hat: Sie hängt zu dicht, einige Arbeiten blieben mangels Platz unausgepackt, auf den begleitenden Videofilm wird nirgends hingewiesen.

Goldene Pfeile müßten vom Zar-verbrämten Überseemuseum eigentlich zum gar nicht so weit entfernten Staatsarchiv hinführen, würde die Kreml-Gold-Ausstellung sich selbst ernst nehmen: Denn die Karikaturen-Ausstellung ist ihre Begleitausstellung. Doch davon nimmt selbst im Überseemuseum kaum jemand Notiz: kein Plakat weit und breit, lediglich ein Katalog zur Ansicht — unscheinbar und auch erst seit gestern. Birgitt Rambalski

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