: Die Domestizierung einer wilden Meile
■ Mythos Potsdamer Straße: Der ambivalente Charme ist dahin/ Die wahre Potsdamer ist eine Straße der Erinnerung
Wo die Bundesstraße 1 von Aachen nach Kietz (als Reichsstraße 1 führte sie bis nach Königsberg) für 1.800 Meter den Namen Potsdamer zu führen beginnt, hat die Straße seit Jahrzehnten kaum ihr Gesicht verändert. Machnow hält sich nach wie vor für »Deutschlands größtes Fahrradgeschäft seit 1899«, vis-à-vis dräut die Hauptverwaltung der BVG. Zwischen den Königskolonnaden, die 1910 vom Alexanderplatz hierher umgesetzt wurden, wird der Blick auf das ehemalige preußische Kammergericht frei. Alles wie gehabt? Nicht ganz.
Die Masten, an denen mehr als vierzig Jahre die Flaggen der vier Siegermächte wehten, sind entblößt. Die Alliierten haben den Sitz ihres Kontrollrates verlassen, und wo einst Roland Freisler die Verschwörer des 20. Juli 1944 aburteilte, wird sich bald das Berliner Kammergericht auf den Namen des Volkes berufen. Dann werden auch die Herren Kammerrichter in jenem zähen Verkehr stecken bleiben, den die Vereinigung der Potsdamer Straße beschert hat. In der Mauerära war ihr am Potsdamer Platz der Kopf abgeschlagen, heute geht die morgendliche rush hour nahtlos in den abendlichen Berufsverkehr über. Der Fußgänger kommt oft schneller voran als die Automobilistin.
In Berlin sind vier verschiedene Straßen nach der Nachbarstadt im Westen benannt, doch weit über die Stadt hinaus bekannt ist nur jene, die sich durch Schöneberg und Tiergarten zieht. Hier stellte Joseph Goebbels 1943 im Sportpalast seine berühmte Frage »Wollt ihr den totalen Krieg?«. Zuvor hatte er von einem Hinterhofbüro aus als Gauleiter Berlins die Reichshauptstadt erobert und unweit der Stelle, wo sie im Norden am Potsdamer Plazt endet, schluckten nicht nur er, sondern auch Adolf Hitler unmittelbar vor der bedingungslosen Kapitulation im Frühjahr 1945 Zyankali.
Vielleicht hängt es mit dieser Überdosis an Geschichte zusammen, die die Straße abgekriegt hat, auf jeden Fall waren (und sind) die Leitmotive ihrer Bewohner immer die — allerdings unterschiedlich terminierten — guten alten Zeiten. Die Alten schwärmten von den zwanziger Jahren, als die Potsdamer noch eine feine Geschäftsstraße im neuen Westen der Stadt war, und erinnerten sich mit Wehmut an den Sportpalast, den Carsten Klingbeil 1975 hatte abreißen lassen, um an der Pallasstraße einen unförmigen Wohnkoloß aufzubetonieren. Die Ganoven im Apollo 11 oder der Sexy-Bar trauern den Zeiten nach, in denen Klaus Speer und seine Brüder noch der Persergang und den Jugoslawen, die sich auf der östlichen Seite festgesetzt hatten, Paroli boten. Die Hausbesetzer erinnern sich an den Zwoundzwanzigsten neunten und manch andere große Randale.
Ich selbst habe mehr als fünfzehn Jahre an der Potsdamer gewohnt und datiere ihre guten alten Zeiten auf Anfang der achtziger Jahre. Damals hausten hier nach dem Motto »Leben und Leben lassen« widersprüchlichste Subkulturen Tür an Tür: Luden und Huren, Hausbesetzer und Freaks, Säufer und Rentner, Türken und Asylbewerber. Die Normalos, die 'BZ‘-Berufsberliner, waren nur eine Minderheit von vielen.
Ab 1983 schlug jedoch die Sanierung endgültig durch. Seit 1965 hatte die Neue Heimat, die rund um die Potsdamer das erste Sanierungsgebiet Deutschlands zugesprochen bekam, Sozialhygiene mittels Modernisierung vorangetrieben. Ganze Blöcke wurden entkernt, Teile der anliegenden Nollendorf- und der Steinmetzstraße als Fußgängerzonen abgepollert und anschließend geplante Gemütlichkeit inszeniert. Wo das Hotel am Sportpalast den Gestrandeten der Großstadt eine ärmliche Herberge geboten hatte, wurde postmoderne Allerweltsarchitektur nach den Normen des Sozialen Wohnungsbaus hingestellt. Das an das »Sporti« angrenzende Hinterhaus, in dem Andreas Baader, Gudrun Ensslin und andere sich Anfang der siebziger Jahre in einer konspirativen Wohnung der RAF getroffen hatten, kam ebenfalls unter die Abrißbirne. Den Puffs und Zockerhöhlen wurde gekündigt, mit ihnen verschwanden die Luden und Kleinganoven, die Teicher und Rohheitstäter, die Spieler und die Barkeeper, die bei Bedarf die richtige Dosis K.O.-Tropfen in den Fudschi gemischt hatten.
Die unverwüstliche Roberta, ein griechischer Transvestit, und ein paar wenige Kolleg(?)Innen versuchen noch immer, Freier in eine Tiefgarage zu locken, doch die roten Lichter sind ein für allemal erloschen. Die meisten Frauen, die hier angeschafft haben, sind schon vor Jahren nach Charlottenburg oder auf Springers Telefonstrich abgewandert. Etliche der Hausbesetzer und Punks wurden geräumt und mußten sich in das Kreuzberger Reservat zurückziehen. Die Asylantenheime wurden geschlossen. Viele der Alten wurden in Neubauten am Stadtrand umgesetzt.
An die Stelle der multikulturellen Minoritätengesellschaft traten mehr und mehr jene aufgeschlossenen, jüngeren Zeitgenossen, die es chic und aufregend fanden, an der verrufenen Potsdamer zu leben. Sie nannten die Straße »Potse«, ein Terminus, durch dessen Gebrauch sie sich leicht von den Alteingesessenen unterscheiden lassen, für welche die Straße die »Potsdamer« ist und bleibt. Den Protagonisten des Neuen Mittelstandes folgten Design-, Futon- oder italienische Feinkostläden für den standesgemäßen Yuppi-lifestyle. Die Neuankömmlinge konnten sich noch ein wenig am sozialen Elend der wilden Meile delektieren, doch sie verdrängten gleichzeitig das pittoreske Environment. Einzig die Junkies haben sich bis heute gehalten. Sie werden seit über zehn Jahren von der Polizei durch den Kiez geschoben und sind mittlerweile wieder am U-Bahnhof Kurfürstenstraße angelangt.
Sie dealen ihre Päckchen ungerührt vor den Schaufenstern von Woolworth und Wegert, die seit dem Fall der Mauer einen ungeahnten Aufschwung erlebt haben. Die Geschäftswelt der Potsdamer ist seit langem durch Flüchtigkeit gekennzeichnet, und seit dem 9. November sind die ganze Straße entlang neue Billigläden für Polen und Ostler aufgeblüht. In den Geschäftsräumen, in denen der Uhrmacher Mai seine in russischer Kriegsgefangenschaft gefertigte Uhr aus Holz und Blech ausgestellt hatte, lockt jetzt »Scorpion Sports« unter dem Motto »Haufenweise Niedrigpreise« mit grellen Jogginganzügen.
Auch die ausgeprägte Imbißlandschaft verändert sich unentwegt. Wo in »Ellis Bratpfanne« der einbeinige Boxer Karl und andere Frührentner bei Bier und Korn die Weltlage zu erörtern pflegten, gibt es heute Falafel. Nebenan, wo gerade noch ein Türke den Kebabspieß drehte, kocht jetzt ein Pakistani scharfen Chicken Curry.
Ein paar traditionsreiche Fachgeschäfte haben sich gehalten: Struppe & Winkler, seit 1890 die Fachbuchhandlung für Recht und Wirtschaft, die Landkartenhandlung Schropp, die auf Botanik und Zoologie spezialisierte Buchhandlung Zieran. Zwischen Pohlstraße und Landwehrkanal ist die Potsdamer besonders vom gedruckten Wort geprägt. Der 'Tagesspiegel‘ hat sich eine neue Rotation und eine weltstädtische Leuchtreklame zugelegt, der 'tip‘ wird hier redigiert und die 'Zweite Hand‘ produziert. Im Hinterhof über den Dächern residiert der linke Rotbuch- Verlag.
Nördlich des Landwehrkanals — vor dem Krieg begann hier der belebteste Teil der Straße — findet sich dann das triste Ende der Potsdamer. Die Brücke über das ölig glänzende Gewässer ist das Beweisstück für eines der größten städtebaulichen Verbrechen der Wiederaufbaugeneration. Um für die Wüstenei des Kulturforums mit ihrer inkonsistenten Solitärarchitektur Platz zu machen, wurde die Brücke um knapp 45 Grad gedreht, die Potsdamer Straße nach Westen verlagert und auf ihre historische Trasse die Staatsbibliothek gesetzt. Den alten, von großen Bäumen gesäumten Torso verhökerte der rot- grüne Senat im vergangenen Jahr an die Daimler Benz AG.
Der ambivalente Charme der Potsdamer ist dahin; sie ist eine normale Berliner Straße geworden. Verschwunden sind Annie und Theo Scheurich, die das 1901 begründete Lebensmittelgeschäft Scheurich & Patzke am Leben erhielten. Verschwunden ist auch Hans Kalupa, der bis zum vergangenen Jahr vor Wegert Blumen verkaufte und noch im Sportpalast Radrennen gefahren war. Die wahre Potsdamer ist eine Straße der Erinnerung — an die guten alten Zeiten. Michael Sontheimer
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