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Wole Soyinka: So nicht, meine Herren Präsidenten

■ Der nigerianische Literatur-Nobelpreisträger fordert als Voraussetzung für Reparationen aus Europa zuerst eine „Wiedergutmachung gegen innen“. Denn bei der Entkolonisierung hätten nur die Eliten Afrikas ihre Souveränität zurückerhalten, das Volk warte dagegen weiter auf seine Rechte.

Die Frage der Wiedergutmachung beinhaltet einen Rückblick in die Geschichte, in unsere Vergangenheit, aber dieser Blick zurück muß mit einer tiefgründigen und realistischen Einschätzung unserer Gegenwart und einer Projektion in die Welt, die wir uns vorstellen, das heißt unserer Aussichten für die Zukunft, beginnen.

Doch so wie wir dies bislang betrieben haben, handelt es sich immer noch um eine nach außen gerichtete Anstrengung; denn noch immer stellen wir Forderungen an andere, die, egal, wie sehr sie auch unser Schicksal beeinflußt haben mögen, wie sehr sie es immer noch bestimmen mögen, nichtsdestotrotz unter anderen Klimata leben und die eine von der unseren deutlich unterschiedene Identität besitzen. Wir sind also in einem Bemühen engagiert, das, in unserer Gegenwart ansetzend, uns auf eine Reise rückwärts in unsere Geschichte, vorwärts in unsere Zukunft und auswärts in die Richtung anderer hin bewegt.

Sie werden bereits bemerkt haben, daß es in all dem einen fehlenden Vektor gibt, einen, den ich wegen der Bedeutung und der Rigorosität der von ihm ausgehenden Forderungen bis jetzt absichtlich unerwähnt gelassen habe. Dieser Vektor weist nach innen. Wenn wir uns jetzt daran machen, unsere Gegenwart voll und ganz anzunehmen, dann können wir uns nicht länger vor dieser Reise ins Innere drücken, diesem absolut wichtigen Akt der Introspektion. Wenn wir also Reparationen von anderen verlangen, dann müssen wir uns auch fragen: Schulden wir nicht auch unserem eigenen Volk Wiedergutmachung? Die Souveränität, das heißt die Freiheit der Entscheidung wurde uns als Volk genommen. Diese Tatsache ist tief in unserer Geschichte verankert.

Ebenso wenig zu leugnen aber ist die Tatsache, daß beim Akt der Wiedergewinnung der Souveränität, in diesem ungleichen, als Dekolonisation bekannten Prozeß, die Führung Afrikas im Allgemeinen der Logik und der Gerechtigkeit, den eigenen Völkern die Souveränität wiederzugeben, wenig Aufmerksamkeit schenkte. Unter allen nur denkbaren Vorwänden, einschließlich der Verfolgung rechter und linker Ideologien, durch Berufung auf Prioritäten wie wirtschaftliche Entwicklung, nationale Stabilität, unter Hinweis auf die Erbschaft ethnischer und religiöser Unruhen oder auf die Machenschaften des Neo-Kolonialismus haben Afrikas Führer die Basis der Macht stets weiter verengt — bis hin zum Extrem ihrer totalen Personalisierung, wobei sie gleichzeitig den Prozeß der politischen Führung und des Regierens mystifizierten und Millionen ihrer Mitbürger von der Mitbestimmung ausschlossen.

Auch wenn es die Lehren kollektiver Szenarien, die vor unseren Augen in anderen Weltteilen inszeniert werden, nicht gäbe, müssen wir doch erkennen, daß jetzt der Moment gekommen ist, da wir das Konzept und die Praxis der Macht auf unserem Kontinent Überprüfen müssen.

Die Kosten der Beibehaltung diktatorischer Strukturen, die Manöver, die von der Entwicklung und Verwirklichung von Programmen zugunsten unserer Völker ablenken sollen, die Energien, die verschwendet werden, das Blut, das vergossen wird, um überall auf unserem Kontinent die Herausforderung des Machtmonopols abzuwehren, all diese Vorgänge machen es offensichtlich, daß die Option der Demokratie nicht nur attraktiv ist, sondern daß sie auch der rationale und unvermeidliche Weg ist.

Dies ist ein Akt der Wiedergutmachung, dem sich die politische Führung auf diesem Kontinent nicht länger entziehen kann. Es ist unsere Pflicht, unsere Völker unter dem Banner der Demokratisierung zu einen, in einem Prozeß, der eher einschließt als er ausschließt, einem Prozeß, der unsere Ressourcen für die Entwicklung bewahrt, anstatt sie für eigensüchtige Verewigung einiger Weniger an der Macht zu vergeuden.

Die Heimsuchung durch Bürgerkriege überall auf unserem Kontinent, die daraus resultierende verzögerte Entfaltung unseres kreativen Potentials, der unduldbare Fluß von Millionen unserer Menschen, die zu Flüchtlingen aus ihrem eigenen Land gemacht worden sind — in der Auseinandersetzung zwischen Macht und Freiheit —, dies alles stellt eine permanente Provokation unseres politischen Urteils und unseres politischen Wollens dar. Die zur Zeit noch schwer greifbare Stabilität erzwingt neue Formen sozialer Beziehungen, die weder in Diktaturen der zivilen noch der uniformierten Spielart zu finden sind. Die einzige überlebensfähige Alternative besteht in einer „Umarmung“ der demokratischen Option.

Wir müssen endlich mit dieser unvermeidlichen Zukunft zu Rande kommen und ihr selbst die Richtung bestimmen.

Wir dürfen nicht warten, bis unsere Völker es uns in die Ohren schreien, bis sie fordern, daß selbst unser Name, die „Organisation der Afrikanischen Einheit“, OAU, in „Organisation demokratischer afrikanischer Staaten“ umgewandelt wird.

Laßt uns jetzt entschlossen sein, den ganzen Apparat unrepräsentativer Macht zu zerstören und für die Erreichung dieses Zieles ein Datum vor dem Ende dieses Jahrhunderts zu setzen. Mit diesem Akt der nach innen gerichteten Wiedergutmachung erlangen wir die moralische Kraft und das Selbstbewußtsein, jedem Vektor unserer Geschichte bei der Interaktion mit dem Rest der Welt eine neue Richtung zu geben.

Leicht gekürzte Fassung einer Rede, die Wole Soyinka am 23. Mai im nigerianischen Ibadan gehalten hat. Die Übersetzung besorgte Gerd Meyer.

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