: Grüß Gott, Frau Enzensberger!
■ Neuer Staub aus der Anderen Bibliothek
Das grammatische Geschlecht eines Textes zu ändern, ist ein Kinderspiel. Aber wenn das natürliche Geschlecht von dieser Operation betroffen ist, wird die Sache kompliziert. Haben wir es mit Homosexuellen zu tun, mit Transvestiten, Transsexuellen, Hermaphroditen?“ So leitete Hans Magnus Enzensberger alias Andreas Thalmayr vor mehreren Jahren das 37. Kapitel im Wasserzeichen der Poesie ein. Wir möchten die Frage heute an Judith Macheiner weiterleiten, die 1939 in München geboren ist, in Berlin lebt und eine Goldkrone auf dem Backenzahn rechts unten hat.
Schon damals stand sie Thalmayr zur Seite; wir denken deshalb an ein neues Versteckspiel von Enzensberger. Das Photo von Frau Macheiner ist dabei ganz nebensächlich: Anna Grass etwa hielt in den sechziger Jahren für ein Titelbild des Literarischen Colloquiums Berlin ihr Gesicht hin, als der Autor der Blechtrommel unter falschem Namen Geschichten schrieb, um unvoreingenommen beurteilt zu werden.
Das Grammatische Varieté ist eine Textlinguistik anhand ausgewählter Beispiele aus der großen Literatur. Zu den Studienobjekten der Judith Macheiner gehört immerhin auch Günter Grass. An einem falsch zitierten Satz der Blechtrommel wird uns die Reihenfolge der Adverbiale oder Umstandsbestimmungen im Satz erläutert.
Ein falsches Zitat mag ja noch angehen, beschreibt doch Macheiner selber bei anderer Gelegenheit, wie sich manchmal Veränderungen einstellen, „wenn man versucht, den Spruch aus dem Kopf zu zitieren“. Aber schriebe Enzensberger Günter Grass mith? Und würde Enzensberger ernsthaft folgenden Satz äußern: „Wie wir an der Wortstellung gesehen haben, tragen die Prinzipien ganz allgemein dazu bei, daß wir, wenn wir diesen nachkommen, darauf hoffen können, besser verstanden zu werden“? Das klingt so authentisch nach Hörsaal, daß wir uns an die Sprachwissenschaft der ehemaligen DDR erinnert fühlen. Ein weiteres Indiz dafür ist die unsichtbare Gegenwart von Uwe Johnson, der nicht beim Namen genannt, aber allgegenwärtig ist. Im Zweifelsfall ein genauso naiver Versuch, das MfS zu täuschen, wie Johnsons ursprünglicher Plan, unter dem Namen Joachim Catt im Westen zu publizieren und weiter im Osten zu wohnen.
Die Fäden laufen schließlich zusammen bei Monika Doherty vom Institut für Anglistik und Amerikanistik der Humboldt-Universität. Frau Doherty hat das Geheimnis der Stilistik offensichtlich schon vor längerer Zeit entdeckt und schreibt seitdem in regelmäßigen Abständen ihr Hauptwerk neu. Das Manuskript Grundlagen einer Theorie über sprachliche Ausdrucksmittel epistematischer Einstellungen von 1981 wurde unter dem eingängigeren Titel Epistemische Bedeutung einige Jahre später veröffentlicht. Schließlich hat die Autorin selbst eine nochmals bearbeitete Version Epistemic Meaning herausgebracht. Ansonsten hat sie eine typische DDR-Karriere absolviert: DissertationA im Jahr 1969, Anstellung am Zentralinstitut für Sprachwissenschaft, Fachaufsätze, DissertationB im Jahr 1981.
Ihre sprachspielerischen Fähigkeiten treten spät zutage, und erst in der Habilitationsschrift nimmt sie sich kleine Eskapaden wie die vorweggestellte Wahrheitssuche heraus:
Wo ist denn Konrad?
Konrad wird doch nicht etwa ver
reist sein?
Ist Konrad wirklich verreist?—
Konrad ist vermutlich verreist.
Konrad muß ja wohl verreist sein.
Konrad ist verreist.
Konrad soll verreist sein.
Konrad ist verreist?
Konrad ist doch nicht verreist!
Konrad ist nicht verreist.
Konrad kann gar nicht verreist
sein.
Konrad ist nicht verreist?
Wo ist Konrad denn?
Da ist ja Konrad! — Er will tatsächlich verreist gewesen sein.
Zur Lösung der Probleme Geschlechtsumwandlung, Partikeln und Tempus werden Beispiele von Bert Brecht, Walter Benjamin und Ernst Bloch herangezogen. Die Stimmung ist dementsprechend intellektuell und hochgradig melancholisch. Das bessert sich auch nicht mit den neueren Zitaten, die von Thomas Bernhard, Max Frisch und Hans Magnus Enzensberger stammen. Die lustige Form eines dreigeteilten Varietés will gar nicht recht zum Inhalt passen, und der Clown darf nur in den kurzen Pausen auftreten. Selbst die Universitätslinguistik, die insgesamt komplizierter sein mag, ist vergleichsweise lebensnah und sogar amüsanter.
Besonders enttäuschend ausgefallen ist die Analyse der Geschlechterrollen, die trotz gegenteiliger Ankündigung nicht über grammatische Fragestellungen hinauskommt. Die Möglichkeit, manchmal bloß in den Raum gestellt Thesen vom Sexismus der Sprache adäquat zu untermauern, verstreicht leider ungenutzt. Allein der Blick ins Literaturverzeichnis zeigt eine reine Männergesellschaft. Genau darin liegt der eigentliche Sinn des Grammatischen Varietés.
Es ist eine wehmütige Erinnerung an ein untergegangenes Berlin, an ein Friedenau, wo Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Uwe Johnson und Max Frisch Nachbarn waren. Das Buch kommt den Lesern entgegen, die gern an die große Zeit der Gruppe47 zurückdenken, und sicher besteht auch Interesse an den Anekdoten, wie seinerzeit die Zensoren ausgetrickst wurden. Doch hier wird ein heillos komplizierter Ardiadnefaden durch ein Labyrinth gelegt, dessen Mauern inzwischen niedergerissen sind. Enzensberger will uns einen Führer an die Hand geben, der augenzwinkernd geheime Schleichwege verrät, obwohl wir schon selber die Abkürzung gefunden haben. Dieses Buch hatte sich bereits überlebt, bevor es in den Handel kam. Ludger Jorißen
Judith Macheiner: Das grammatische Varieté. Oder Die Kunst und das Vergnügen, deutsche Sätze zu bilden. Die Andere Bibliothek im Eichborn-Verlag, 407 Seiten, gebunden, 36 DM
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