: Alltagsphilosophie für Arbeitslose
Nur geringe Zunahme der Arbeitslosigkeit in der Ex-DDR/ Frauen sind am stärksten betroffen/ Präsident der Bundesanstalt fordert „Optimismus“/ Tendenz zur Langzeitarbeitslosigkeit ■ Aus Nürnberg Bernd Siegler
„Optimismus — gepaart mit Geduld — ist das Gebot der Stunde und ein Gebot der Klugheit.“ Heinrich Franke, Präsident der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, bemüht sich als Alltagsphilosoph. Er will der von ihm bei den Beschäftigten in den fünf neuen Bundesländern konstatierten Tendenz zum Pessisimus entgegenwirken. „Der Pessimist begräbt seine Chancen vorschnell und oft auch zu unrecht“, setzt er bei der Präsentation der Arbeitsmarktdaten des Monats Mai noch eins drauf. Für Skepsis gibt es für Franke „keine Veranlassung“.
Die Zahl der Arbeitslosen in der Ex-DDR sei im Mai nur um 5.300 gestiegen, die Zahl der Kurzarbeiter gar um 55.800 auf 1.963.000 gesunken. Die Arbeitslosenquote liegt damit im Osten bei 9,5, im Westen bei 6,0 Prozent.
Für das Signal zur Entwarnung will Franke jedoch erst noch drei „sensible Termine“ abwarten. Am 30.Juni, 30.September und 31.Dezember dieses Jahres stehen neue Kündigungswellen an, hinzu kommen die von der Treuhand angekündigten über eine Million Entlassungen und noch einmal cirka 125.000 aus der „Warteschleife“ des öffentlichen Dienstes. Franke rechnet damit, daß am Ende des Jahres unter dem Strich 1,75 Millionen Menschen in den neuen Bundesländern auf der Straße stehen werden. Ende Mai waren es erst 842.000.
Der Chef der Bundesanstalt für Arbeit gibt offen zu, daß der überraschend geringe Anstieg der Arbeitslosenzahlen im Mai auf den „massiven Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente“ zurückzuführen sei. Dazu zählen 29.000 zusätzliche ABM-Beschäftigungsverhältnisse im Mai, 30.000 Arbeitslose in Vollzeitmaßnahmen beruflicher Weiterbildung und 20.000 zusätzliche Inanspruchnahmen von Altersübergangsgeld. Ohne diese Maßnahmen wäre die Zahl der Arbeitslosen gegenüber dem Vormonat um 85.000 gestiegen.
Zur Entlastung des Arbeitsmarkts und der Statistik tragen nicht nur das Altersübergangsgeld (Ende Mai für insgesamt 141.000 Arbeitnehmer) und das Vorruhestandsgeld (372.000 Empfänger) bei, sondern auch die zunehmenden Pendlerströme von Ost nach West. Mittlerweile nehmen 350.000 Menschen Strecken von teilweise über 100 km in Kauf, um arbeiten zu können. Nach den Zahlen des sogenannten „Arbeitsmarkt Monitor“ erhöhte sich die Zahl der Pendler von November 1990 bis März dieses Jahres um 100.000 auf 300.000. Allein im Mai kamen cirka 30.000 dazu.
Hinter den nackten Arbeitslosen- und Kurzarbeiterquoten verbergen sich die Tendenzen zur Langzeitarbeitslosigkeit und zu einer weiteren Zunahme des Arbeitsausfalls bei Kurzarbeit. Von den rund 810.000 Arbeitslosen vom März dieses Jahres war die Hälfte auch schon im November arbeitslos gemeldet. Mit 56,5 Prozent hat der Frauenanteil an den Arbeitslosen einen neuen Höchststand erreicht. 70 Prozent aller Kurzarbeiter im sogenannten Beitrittsgebiet arbeiten bereits länger als ein halbes Jahr verkürzt, das Ausmaß des durchschnittlichen Arbeitsausfalls übertraf erneut den Vormonat und beträgt jetzt 56 Prozent.
Andere Befunde des „Arbeitsmarkt Monitor“ bereiten dem BfA- Präsidenten große Sorgen. So rechnen rund 200.000 Kurzarbeiter mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes, ohne sich zugleich um einen neuen zu bemühen. Im März bezeichneten schon 52 Prozent der Befragten ihre Chancen, innerhalb des nächsten halben Jahres eine Stelle zu finden, als „sehr gering“. Im November waren es nur 42 Prozent. Gegen diesen Pessismus setzt Franke das Licht. „Vor lauter Schatten sollte man das Licht nicht übersehen“, warnt er und verweist auf die leicht gestiegene Zahl der Arbeitsvermittlungen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Mit der Lage im Westen ist Franke nach wie vor zufrieden. Die Dynamik der Entwicklung habe sich zwar etwas abgeschwächt, aber die Verfassung des Arbeitsmarkts sei dort „gut und solide“. Ende Mai schlagen im Westen knapp über 1,6 Millionen Arbeitslose und 111.000 Kurzarbeiter zu Buche. Die Zahl der Arbeitslosen ist damit gegenüber dem Vorjahr um 220.000 und gegenüber dem Vormonat um 48.300 zurückgegangen. Saisonbereinigt hat sie sich jedoch um 16.000 erhöht.
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