ZUHAUSE DOCH FREMD
: Erste Schritte in Israel

Sonia Weinstein ist Jüdin und Ärztin. Mit ihrer Familie aus der Sowjetunion nach Israel ausgewandert, muß sie zunächst einige Hürden nehmen, um wieder in ihrem Beruf arbeiten zu können: Hebräisch lernen, medizinische Seminare besuchen und Prüfungen bestehen. Aufgezeichnet  ■ VON INNA SHAPIRO

Es war eine schwere Entscheidung, die Sowjetunion zu verlassen. Mein Mann Sacha und ich, Sonia, lebten insgesamt recht gut. Wir wohnten in einem kleinen Ort in der Nähe von Kischinew und arbeiteten im Krankenhaus. Die Nachbarn schätzten uns, weil wir Tag und Nacht bereit waren, ihnen zu helfen, wenn sie krank waren. Aber wir wußten auch, daß es für uns als Juden schwierig sein würde, beruflich weiterzukommen.

Wir haben zwei Kinder, Igor ist heute dreizehn und Savita ist acht Jahre alt. Die Kinder wurden in der Schule schikaniert. Igor wurde in seiner Klasse verspottet, weil er beschnitten war. Das ging so weit, daß er Angst hatte, in der Pause auf die Toilette zu gehen. Und meine Tochter sagte ihren Freunden, sie sei Russin, weil sie nicht die einzige Jüdin in der Klasse sein wollte. Aber der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte, waren die Drohungen gegen meinen Mann Sacha, nachdem er sich geweigert hatte, eine falsche Zeugenaussage für einen der Kriminellen aus der Stadt zu machen. Ein anderer Arzt des Krankenhauses, der Sacha ähnlich sah, wurde von Gangstern überfallen und brutal zusammengeschlagen.

Unendliche Querelen mit der sowjetischen Bürokratie

Da trafen wir die Entscheidung, die Sowjetunion zu verlassen. Am härtesten war es, uns von unserer Familie zu trennen, von meinen Eltern, meiner Schwester und den Eltern meines Mannes. Von Israel wußten wir nahezu nichts. In den sowjetischen Medien gab es nur negative Informationen, und unsere Erwartungen waren gering. Es war uns bekannt, daß wir in Israel nicht automatisch unseren Beruf würden ausüben können. Ich hatte für mich sogar schon an eine provisorische Tätigkeit gedacht: Näherin oder Köchin.

Als wir das Flugzeug nach Israel bestiegen, verließ uns langsam die Furcht. Zum ersten Mal seit Monaten konnten wir in Frieden sitzen, ohne an unendliche Verwaltungsquerelen wegen unserer Visa, Genehmigungen und Tickets mit der uneffektiven sowjetischen Bürokratie denken zu müssen. All das gehörte nun der Vergangenheit an, und Israel wurde von einem Traum zur Realität. Wir fragten uns schon, ob wir das Recht haben, unsere Kinder aus ihrer natürlichen Umgebung herauszureißen. Solche Fragen führten aber zu nichts, weil eine Rückkehr unmöglich war. Kurz vor der Landung war unsere Stimmung völlig umgeschlagen. Ich sehnte mich nach Arbeit und war bereit zu kämpfen.

Die angenehmen Überraschungen begannen bereits am Flughafen. Man empfing uns mit Blumen und Gesängen; es gab sogar kleine Geschenke für die Kinder, Süßigkeiten in bunten Tütchen, die ihnen viel Freude machten. All das war sehr bewegend, und ich hätte alle Welt umarmen können. Man versah uns auch mit Geld: 1.000 Schekel. Damit konnten wir anfangen und mieteten eine Wohnung mit fünf Zimmern in einem Haus in Kfar Saba. Von dem Überfluß in den Geschäften hatte ich gehört, und war davon nicht überrascht. Aber als ich die Preise in Rubel umrechnete, konnte ich nichts mehr kaufen. Ich ging in die Geschäfte und verließ sie wieder, obwohl ich genug Geld in der Tasche hatte.

Um meine Approbation zu bekommen, mußte ich einen besonderen Kurs belegen, in dem eingewanderte Ärzte für ein Gleichstellungsexamen vorbereitet wurden. Aber dazu mußte ich Hebräisch können. Deswegen begannen wir an einen Sprachkurs an der Oulpan, der Hebräisch-Schule. Wir hatten begriffen, daß die Sprache der Schlüssel zum Erfolg war. Die nackten Wände unserer Wohnung füllten sich schnell mit Notizen über die Konjugationen, mit Bezeichnungen von Knochen, anderen Fachausdrücken und Wörtern der Umgangssprache. Unsere Ausbildung an der Oulpan sollte fünf Monate dauern, aber nach zwei Monaten bewarb ich mich außerdem für einen Ärztekurs in Afula. Das war mein erster Schritt zum Ziel, das ich mir gesetzt hatte: Gynäkologin in Israel zu werden.

Ich ging jeden Morgen um 5 Uhr aus dem Haus und die vier Bushaltestellen bis nach Afula zu Fuß, um 1,40 Schekel zu sparen. Den ganzen Morgen lernte ich im Krankenhaus, und danach ging ich in der Regel auf den Markt von Afula, wo es billiger als auf den Märkten von Kfar Saba war. Nach eineinhalb Monaten intensiven Studiums im Krankenhaus hörte ich von einem Examen in Jerusalem und meldete mich einfach vorzeitig an; mit den Kenntnissen, die ich in der Sowjetunion erworben hatte, wollte ich das Examen bestehen. Ich fiel aber durch, und hatte das Gefühl, total versagt zu haben. Das war für mich ein harter Schlag. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich eine Prüfung nicht bestanden. Aber nach einigen Tagen riß ich mich zusammen und fing wieder an zu lernen.

Unser größtes Problem war das Geld

Zur gleichen Zeit begann in Jerusalem ein Weiterbildungskurs für Zahnärzte. Sacha hätte ihn nicht unbedingt belegen müssen, da er schon seine Approbation bekommen hatte. Aber er verspürte das berufliche Bedürfnis, sich einzuschreiben. Wir hatten reichlich Probleme und das größte war das Geld. Für Neueinwanderer war der Kurs zwar kostenlos, aber die Fahrten nach Jerusalem belasteten unser Budget, das heißt, sie gingen zu Lasten des Anteils, der für die Ernährung der Kinder vorgesehen war. Es gab auch ein Zeitproblem: Da wir beide bis zum abend studierten, blieben die Kinder praktisch ohne Aufsicht. Trotz all dieser Schwierigkeiten haben wir beschlossen, daß Sacha diesen Kurs belegen sollte. Es war klar, daß er sich weiterbilden mußte, um auf den Stand der Medizin in Israel zu kommen. Das war eine harte und zugleich spannende Phase. Wir trafen uns am Abend und erzählten uns gegenseitig, was wir im Laufe des Tages gelernt hatten.

Unser Ehrgeiz sprang auch auf die Kinder über. Schon am ersten Schultag kam Igor freudestrahlend nach Hause. „Mama, du wirst es nicht glauben, alle Schüler in meiner Klasse sind Juden!“ Endlich fühlte er sich den anderen gleichberechtigt. Er bat den Direktor der Schule, in eine „normale“ Klasse und nicht in eine Oulpan-Klasse gehen zu dürfen. Er befreundete sich mit den Kindern seiner Klasse, und das Haus war voll von seinen hebräisch sprechenden Freunden. Im Sommer, als Sacha und ich studierten, beschloß Igor, die großen Ferien zu nutzen, um die Familie zu unterstützen. Ohne uns etwas davon zu sagen, ging er zum Leiter des Supermarkts in unserem Stadtteil, erklärte ihm, daß seine Eltern Kurse belegen müßten, um als Ärzte praktizieren zu können, und bat ihn um eine Arbeit. Und er begann zu arbeiten. Ich war sehr stolz auf ihn, aber schrieb meinen Eltern nichts davon. Sie hätten geglaubt, es würde uns an Brot mangeln.

Ich habe weiterstudiert, im Kurs, im Autobus, am Abend, alle verfügbare Zeit darauf verwendet. Ende Dezember kam das Examen. In seinen Einleitungsworten warnte Prof. Shenkar die Kandidaten, daß diese Prüfungen schwieriger als die vorherigen sein würden, weil zu viele Ärzte nach Israel gekommen seien. Es war wirklich sehr schwer. Trotzdem kam ich mit einem guten Gefühl heraus. Nach zwei Wochen erhielt ich per Post das Ergebnis: bestanden. Es war einer der glücklichsten Tage meines Lebens. Von 1.200 Ärzten, die sich zur Prüfung angemeldet hatten, waren aber nur 119 durchgekommen. Die Lage der Ärzte aus der Sowjetunion war sehr schwierig.

Inzwischen waren meine Eltern und meine Schwester auch in Israel angekommen und lernten Hebräisch. Dann begannen die Amerikaner den Krieg am Golf, und es hatte zunächst den Anschein, als ob Israel die Kriegsgefahr erspart bliebe. Die Freude hielt aber nicht lange an. In der folgenden Nacht begannen die Scud-Angriffe. Wir sorgten uns vor allem um unsere Eltern, weil die Situation sie an den Zweiten Weltkrieg erinnerte. Auch für die Kinder war es nicht leicht. Wir hörten die Explosionen, und die Fensterscheiben zitterten. Einmal bebte das ganze Haus, und meine Tochter glitt unter das Bett, um sich zu schützen. Blaß vor Angst, flüsterte sie: „Mama, ich mag Israel sehr gern, aber ich möchte trotzdem nach Kischinew zurück! Dort gibt es keinen Alarm und keinen Saddam Hussein!“

Nach zwei Wochen eine Stelle als Assistenzärztin

Nach der Prüfung vermittelte mir das Eingliederungsministerium innerhalb von zwei Wochen eine Stelle im Meir-Krankenhaus. Da arbeitete ich zwei Monate ohne Gehalt. Jetzt bin ich Assistenzärztin, beginne morgens um 7.30 Uhr im Krankenhaus und arbeite bis 16 Uhr. Dann kümmere ich mich um den Haushalt und die Kinder. Mein Mann hat eine eigene Praxis eröffnet und kommt immer erst spät. Manchmal gehen wir ins Konzert oder ins Theater. Auf mich warten noch mehr Prüfungen, bis ich dann endlich Gynäkologin bin. Aber die schwersten Zeiten sind überstanden.