: Der Scharfrichter als Spaßmacher
■ Wedekind-Lieder in der Tribüne
Als es im Bewußtsein der Öffentlichkeit den Dramatiker Frank Wedekind noch gar nicht gab, machte er einstweilen mit Gedichten, mit politischen »Stänkerreimen« im 'Siplicissimus‘ Furore. Es hagelte Polizeiverbote, die dem Verleger des Satirikons sprunghafte Auflagensteigerungen bescherten und dem Dichter ein paar Monate Knast einbrachten. Wieder freigelassen ging er auf der Kabarettbühne der »Elf Scharfrichter« in Schwabylon mit seinen Liedern dem verheuchelten Zeitgeist der Wilhelminischen Epoche an den Kragen, oder, wie Heinrich Mann dies zivilisierter formulierte: »Er ging dem feingebildeten Zeitabschnitt gegen die Begriffe.« War er nach der landläufigen Meinung die eigentliche Verkörperung der Scharfrichter, so in den Augen Alfred Kerrs der »geborene«.
Ich habe meine Tante geschlachtet — so nennt sich das Tribüne-Programm. Treffender wäre jedoch ein beliebiger Vers aus dem Hobellied von Ferdinand Raimund aus dem Verschwender. Statt Ernst Busch hört man Paul Hörbiger. Wedekinds aggressiver Witz, seine hinterlistige Schärfe auch da, wo es scheinbar nur um den Verlust der Unschuld geht, bleiben auf der Strecke. Zwischen all die gereimten Niedlichkeiten, auf die man sich da konzentriert, wird ein Tänzchen eingelegt und zur hellen Freude der älteren Jahrgänge aus Buxtehude und Königs Wusterhausen ein unvermeidliches Nümmerchen vorexerziert. Plötzlich zieht sich das vierköpfige Ensemble in die Ecke zurück und liest mit vertauschten Rollen die Schutzimpfung mit dem offenbaren Vorsatz möglichst schnell damit fertig zu sein. Aus Lulu wird zur Saxophon-Begleitung babalabalu, aus Wedekinds Donnerwetter Halleluja und wenn irgendwann zwischen all dem plötzlich Oliver Feld unvermutet mit dem unmißverständlichen Diplomaten-Lied ins Rampenlicht tritt, ist dem Publikum beinahe die gute Laune verpatzt. Nur gut, daß neben Tom Deininger auch Susanne Jansen, so gut es eben geht, mitmacht. Sie spielt ein wenig mit der Wäsche und singt in hoher Stimmlage sehr angestrengt in dulce jubilo, ohne daß man sie verstehen muß.
Die eigentliche Leistung des Tribühne-Ensembles besteht darin, den unverbrüchlichen Nachweis geliefert zu haben, daß die Lieder des Scharfrichters Wedekind einfach nicht umzubringen sind, auch wenn seine hintergründig-aggressiven Kunstminiaturen zu gefällig zubereitetem Jux für gestreßte Hauptstadtbesucher mißbraucht werden. Erhard Weidl
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