: Abglanz der grauen Eminenz in Hallenser Pfützen
Genscher ist Ehrenbürger/ Dem Machtpragmatiker gelang es, aus der „roten“ Hochburg Halle die liberale Hauptstadt Deutschlands zu machen ■ Aus Halle Steve Körner
Ein Jahr Verzögerung und etliche dicke Skandale sind zu überstehen gewesen, ehe es nun endlich soweit war: Hans-Dietrich Genscher ist seit vergangenem Samstag Ehrenbürger von Halle.
Die alte Dame von der Saale hat lange gebraucht, um ihren größten Sohn der Neuzeit zum Ossi ehrenhalber zu schlagen. Weil man nun gerade mal dabei war, langten die Hallenser gleich so richtig hin. Genscher, einstmals in einem der heute längst bis zur Unkenntlichkeit verfallenen Vororte geboren, hat an seinem großen Tag ein volles Programm zu absolvieren. Zuerst, schon morgens um zehn Uhr, der feierliche Festakt im Kreise der lokalen Politprominenz.
Wer immer etwas auf sich hält, gesellt sich zum Kreise der Erlauchten, der in der altehrwürdigen Martin-Luther-Universität tagt. Hans- Dietrich Genscher hat, so sagt sein Sprecher Schumacher, seit Tagen an seiner Dankesrede gefeilt. Der alte Außenminister ist sichtlich gerührt von der Ehre, die ihm seine Heimatstadt in Gestalt des erst seit wenigen Tagen im Amt befindlichen Bürgermeisters Rauen angedeihen läßt.
Der Bonner Ex-Stadtdirektor, der Halle regiert und übers Wochenende immer noch regelmäßig nach Hause ins Rheinland fährt, ernennt den Hallenser, der seit 1952 im Bonner Exil lebt und die Bundesrepublik mitregiert, zum Ehren-Hallenser. Was vor einem Jahr noch an leeren Stadtkassen und dem damit begründeten Einspruch der Opposition in der Stadtverordnetenversammlung scheiterte, ist endlich vollzogen. Genscher, der „Schmelzer der Eisblöcke und Einheitsarchitekt“ ('Hallesches Tageblatt‘), der im Begriff ist, „Georg Friedrich Händel als dem größten Sohn der Stadt den Rang abzulaufen, ('Mitteldeutsche Zeitung Halle‘) tritt an die Stelle der erst kürzlich fürsorglich aus dem Goldenen Buch der Stadt gelöschten Hitler, Goebbels und Göring. Wenn man das so sagen darf.
Wenn einer diese Ehre, so es denn eine ist, verdient hat, dann er. Schon in den „schweren Tagen der Trennung“ (Genscher) ließ Genscher die Verbindung zu seiner alten Heimat nie abreißen. Immer wieder tauchte er zu Privatbesuchen in Halle auf, selbst in den Zeiten gespanntester deutsch-deutscher Beziehungen gestatteten ihm die DDR-Behörden, Urlaub zu Hause zu machen.
Die Hartnäckigkeit, mit der Hans- Dietrich, wie ihn in Halle selbst Wildfremde rufen dürfen, über all die Jahre an seiner alten Heimat, an seinen alten Freunden und Bekannten festhielt, hat etwas Zwanghaftes. Er tut seiner verlassenen Vaterstadt Gutes, als hätte er für irgend etwas sehr, sehr Schlimmes zu sühnen.
Alle hat er sie schon nach Halle geschleppt, die Amtskollegen aus aller Herren Länder, die EG-Bonzen und Politprominenten aus Übersee. Jedesmal wird das kleine, bröcklige Häuschen im ländlich abgelegenen Reideburg besucht und bestaunt, aus dem einst krabbelte, was heute die Welt bewegt. Jedesmal gibt es denselben Menschenauflauf, und der besteht wahrscheinlich jedesmal aus denselben Menschen: „Hans-Dietrich, wir sind doch damals zusammen in die Schule gegangen!“, ausgerufen von einer älteren Frau oder einem älteren Mann, gehört zum festen Ritual jeder Begegnung des deutschen Außenministers mit seinen „Landsleuten“ (Genscher). Die Hallenser sind dankbar, Genscher ist glücklich.
Und Halle dankt es ihm. Mit seinem Ziehsohn und Parteifreund Uwe Lühr haben die Hallenser zur letzten Bundestagswahl zum ersten Mal seit den 50er Jahren wieder einen Liberalen direkt in den Bundestag gewählt — da kam kein anderer mit, der auf dem Stimmzettel stand; kein Sozial- und kein Christdemokrat, kein Bürgerbewegter und erst recht kein PDSler.
Lührs Sieg aber war Genschers Sieg. Das Direktmandat ein persönlicher Triumph für den Mann „mit dem großen Herzen für Halle“ ('Hallescher Express‘).
Hans-Dietrich Genscher, dem Machtpragmatiker mit dem Image eines freundlichen Elefanten, gelang es mit großem persönlichen Einsatz und nahezu permanenter Präsenz an der Saale, aus der früheren „roten“ Hochburg Halle die liberale Hauptstadt Deutschlands zu machen. Die Zweitstimme zur letzten Bundestagswahl war in Halle erklärtermaßen Genscher-Stimme. Die Erststimme sowieso. Wäre der Meister selbst angetreten, die absolute Mehrheit wäre ihm wohl gewiß gewesen.
Begründen läßt sich die tiefe Achtung der Hallenser für Genschman allerdings kaum. Vielen gilt er, der bekennende Sohn der Schmuddelstadt, als „einer von uns“, aber mit dem Unterschied, daß er es geschafft hat. Er ist Vaterersatz und Erfolgssurrogat, ein Nachbar von der freundlichen Sorte, allein weil er eben ein Nachbar ist. Genscher ist unterdessen längst zur grauen Eminenz der Stadt geworden. Der einfache Bürger nimmt ihn vor allem zur Kenntnis, weil der Hans jederzeit bereit scheint, seine schützende Ministerhand über alle möglichen und unmöglichen Unternehmungen seiner Hallenser zu halten.
Genscher ist der Schirmherr für alle Fälle, der Schutzpatron mickriger Messen und gutgemeinter Kirchendacheinweihungen, der Eröffner der Zoosaison und Behüter der Händelfestspiele. Der traditionellen Salzsiederbruderschaft „Halloren“ macht er schnell mal den Pfingstbieranstich, worauf die ihn zum „Schwager ehrenhalber“ ernennen. Was immer das auch sein mag. Der größten Tageszeitung am Ort verhilft er zu einem neuen Herausgeber und mimt ihr gleichzeitig den ständigen Erklärer des schwierigen Zusammenwachsens.
Aber auch sonst läuft ohne den Ausreiser der ersten Stunde nichts mehr in Sachen-Anhalts größter Stadt. Ob die Bürgermeisterwahl oder die Sanierung der Innenstadt, ob Gewerbeansiedlung oder Strukturpolitik — erst Genschers Senf gibt jeder Entscheidung der Kommunalpolitiker die rechte Würze.
Und Halle ist dankbar. Für die vielen Tips und guten Ratschläge. Für die Kameramänner und Kommentatoren, die Kanzler und Chaoten, die jeden Genscher-Auftritt willig begleiten. Für den Abglanz des ministeriellen Ruhms, der bei jedem Besuch auf die grauen Straßen und engen Gassen der Stadt fällt.
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