: Meine geheimen Jugendgedichte
■ taz-Autoren und -Autorinnen öffnen ihre Schubladen — heute Folge 4: Lokalredakteurin Ute Scheub
Zur Erinnerung: Hans-Hermann Kotte stellte fest, »die TüV-Plaketten welken«, Katrin-Bettina Müller ließ »Seufzer aus dem Unterholz« erklingen, und André Meier sinnierte über »Telegrafenmasten — Akupunktur des Fortschritts«. Auch heute soll sich wieder das früh- bis spätpubertäre Jugendgedicht mit seinen geheimsten Leidenschaften, Antriebsfedern und vielfältigsten Verzweiflungen wie ein warmer Regen niederschlagen. Denn, um es noch einmal zu sagen: Auch zu verlassenen Positionen bzw. auf halber Strecke verendeten Stilübungen muß man stehen, um Brüche und Verwerfungen kenntlich zu machen und gemeinsam verarbeiten zu können.
Heute setzen wir unsere Serie fort mit frühen Bewegungsliedern der Lokalredakteurin Ute Scheub, Jahrgang 1955. Sie entstanden im Kampf für mehr Demokratie an den Unis, gegen den Schah, Berufsverbote und das Establishment in den Jahren 1974/75 in West-Berlin bzw. in den utopielosen Zeiten der (ersten) Wende 1984/85 in West-Berlin. Scheubs ungebrochener Idealismus in bezug auf die Aufrichtigkeit der Politik könnte dem linken Gedicht vielleicht auch heute eine lyrische Reling sein in Zeiten des Wegbrechens der Ränder.
Selbstkritischer Traum
(1) Im Jahr 2000 im Zoologischen Garten
ohne Gitter, ohne Eintrittskarten
durch die blühenden Bäume gehen wir
und sehen viel seltnes Getier.
Es sitzt versteinert im Käfig, in der Falle
unschädlich für immer, für alle
(2) Bankkönige nämlich und Kapitalisten
Diktatoren und Edelfaschisten
Ford & Co, Rockefeller, Pinochet
der Schah, Hitler und Thieu.
Generäle, Bullen und ein Bürokrat
den hatte Biermann so satt.
(3) Schleimer, Duckmäuser, Spießer und Kriecher
allzu zahlreich vertreten diese ekligen Viecher
alle zusammen haben ausgemacht
den Kapitalismus, der heute zerkracht.
Jede Generation hat weiter angesteckt
mit dieser Pest, die heute verreckt.
(4) Freund, meinst du wirklich, du wärst von ihr rein?
die Konkurrenz sitzt dir in Mark und Bein
Feigheit und Chauvinismus
Angst und Fetischismus
jeden Tag haben wir das nachgemacht
der Bourgeoisie, die darüber lacht.
(5) Traurig sind wir, wenn wir entdecken
dort hinter den blühenden Hecken
verschrumpelt und klein uns selbst gefangen
weil wir nicht angefangen
früh genug zu kämpfen gegen uns selbst
im Kampf gegen diese Pest.
STREIKLIED
(auf die melodie von guantanamera)
(1) die da oben wolln alle bescheißen
und engagierte aus der uni schmeißen
und mit berufsverbot belegen
und mit dreckverband die lücken verkleben
mit sparmaßnahmen und repression
doch das habt ihr nun davon:
(refrain) wir streiken
die germanisten streiken (weiter)
die historiker streiken
die ökonomen streiken
die soziologen streiken
die romanisten streiken
sogar die physiker streiken
und immer mehr werden streiken
(2) schuldig sind wir, daß krisenstürme blasen
das Geld aus staats- und unikassen
drum baden wir die scheiße nicht aus:
statt rothe wiku-schnüffler raus!
grad die müssen von stellenstop reden
die stinkreich mit fettbauch leben!
refrain: wir streiken
politologen, publizisten, theologen
mathematiker, ZI 1, ZI 2?
(3) wir könn' nicht mehr studieren
wir kriegen nicht mal mehr papier
keine dozenten, tutoren
keine räume und's bafög verloren
in volle vorlesungen gedrängt
die gruppenarbeit an'n nagel gehängt!
refrain: wir streiken
psychologen, religionswissenschaftler, LAI,
ethnologen, handelslehrer, J.-F.-K.-Institut
(4) die paukerei ist die erste tugend
für unsere verkommene jugend
das osi muß endlich in die FDGO
schon lange reden die da oben so
damit wir uns nur noch schinden
und nicht mehr zeit zum nachdenken finden
(refrain:) wir streiken
die FHSS'ler, die Ev. FH für Sozialarbeit, die FHW
die PH'ler, die Post'ler im Wedding
(5) so soll die zukunft werden, leute
drum verhindern wir's schon heute
und wollen ein lehrstück bauen
daß berufsverbote nicht hinhauen
für bauer, braunbehrens und rothe
und haun dem löffler die löffel aus der pfote!!
refrain: wir streiken
(Streikvorbereitungen laufen am EWI [di. VV];
bei den Fremdsprachlern [Mi. VV];
Mediziner [Mi. VV],
Juristen [Mi. VV]; Chemiker usw.
Wendezeit
Wenn der feiste Genscher die Mattscheibe überschwemmt
und Sohnemann kreischend von der Glotze wegrennt
weil windelweiches Wandelgrinsen durch die Stube schleimt
ja dann ist Wendezeit
(Refrain, im 5/4 Takt:) Das ist die Wende
und noch kein Ende
Ich könnte durchdrehn
die Wände hochgehn
Wenn die Freiheit auf den Raketenzäunen totgespießt ist
und die Unfreiheit der Polizei davor aus den Händen frißt
wenn die Staatsstrategen ausbrechen in wiehernde Heiterkeit
ja dann ist Wendezeit.
Das ist die Wende...
Wenn das Dioxin mir schon in den Haarspitzen sitzt
wenn mein Geliebter im Bett Chlordiphenyl ausschwitzt
wenn der Regen so sauer ist wie die Zweisamkeit
ja dann ist Wendezeit.
Das ist die Wende...
Wenn die Macker wieder beginnen zu meckern und motzen
und die Frauen süßlichsaure Mütterlichkeit auskotzen
wenn die Liebe sich nur noch als Plastikgeschwür zeigt
ja dann ist Wendezeit.
Das ist die Wende...
Wenn ich Vorräte anlegen muß an Träumen
Dosen voll Utopien in Kellerräumen
halbgar gefroren bis in die Unendlichkeit
ja dann ist Wendezeit.
Das ist die Wende
und noch kein Ende
Ich könnte durchdrehn
die Wände hochgehn.
Nein das darf nicht wahr sein
Leidenschaft
ist das
was Leiden schafft
zum Beispiel Eifersucht
und Eifersucht
ist das
was mit Eifer sucht
zum Beispiel Leidenschaft
und Leidenschaft
ist das...
Ich sag dir eins
nur der macht aufrechte Politik
der den glühenden Wunsch hat
daß sie eines Tags überflüssig wird
frei assoziierte Individuen
verstehen sich von selbst
ohne diese Krücke
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