VERFASSUNGSDEBATTE
: Behutsame Fortentwicklung

■ Verfassungsrichter a.D. Simon plädiert für eine Verfassungsreform

Die Forderung nach einer behutsamen Fortentwicklung unserer Verfassung erscheint bereits deshalb gerechtfertigt, weil das vereinigte Deutschland keine bloße Erweiterung des Provisoriums Bundesrepublik, sondern ein neues Gemeinwesen in einer sich wandelnden Welt ist. Es ist unsere Pflicht, diesem Gemeinwesen eine Verfassung zu geben, die dem neuesten Stand der Erfahrungen und Einsichten und auch den Anforderungen der europäischen Einigung genügt.

Das Verlangen nach einer solchen Fortentwicklung löst mitunter die Sorge aus, das Grundgesetz könne dadurch unerwünschte Einbußen erleiden. Ist das wirklich zu befürchten? Alle Reformvorschläge benutzen das Grundgesetz als Basis und stimmen darin überein, daß auch eine geänderte gesamtdeutsche Verfassung keinesfalls hinter den bewährten freiheitlichen, demokratischen, rechts- und sozialstaatlichen Verbürgungen zurückfallen darf. Es kann also nur um eine Fortschreibung in begrenztem Umfang und nicht um eine Totalrevision gehen. Der Einigungsvertrag empfiehlt in Artikel 5 eine eingeschränkte Prüfung und nennt als einen der Schwerpunkte die Stärkung des Föderalismus.

Die EKD zur Verfassungsreform

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland will an den konziliaren Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung anknüpfen und hält dem Vernehmen nach folgende Reformprobleme für diskussionswürdig:

(a)Ist das Friedensgebot verfassungsrechtlich in bestimmter Weise zu konkretisieren, etwa durch ein Verbot der Herstellung und Anwendung von Massenvernichtungsmitteln, durch genauere Vorschriften über den Einsatz der Bundeswehr, durch strengere Regelungen für Rüstungsexporte? Bedürfen die Regelungen über Kriegsdienstverweigerung und zivilen Ersatzdienst einer Überprüfung?

(b)Läßt sich die Verpflichtung zur Solidarität mit den armen Völkern zum Verfassungsgebot erheben? Ist das innerstaatliche Sozialstaatsgebot durch soziale Rechte auf Arbeitsförderung, Alterssicherung, Wohnraumvorsorge und auf Chancengleichheit im Bildungswesen zu konkretisieren?

(c)Wie soll eine Staatszielbestimmung zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen gefaßt werden? Ich füge ergänzend hinzu: Muß sie nicht die gleiche Geltungskraft erlangen wie die Rechtsstaatsidee und das Sozialstaatsgebot und als Grenze für das Individualrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Nutzung des Eigentums wirken?

(d)Soll der verfassungsrechtlich gewährleistete Schutz des ungeborenen und behinderten Lebens durch das ausdrückliche Gebot besonderer Hilfen ergänzt werden? Bedarf es eines ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Schutzes der Menschenwürde gegen biogenetische Manipulationen unter entsprechender Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit?

(e)Sollen Formen unmittelbarer Beteiligung des Volkes an der staatlichen Willensbildung durch Volksbegehren und Volksentscheid eingeführt werden? Soll die Verfassung Ausländern das kommunale Wahlrecht gewähren? Ich füge ergänzend hinzu: Muß nicht das Staatsvolk an der Entscheidung beteiligt werden, welche Hoheitsrechte auf die EG oder andere zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen werden?

Man könnte diesen Fragenkatalog noch um Einzelprobleme erweitern, etwa um ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments, den Datenschutz, das Verbot der Aussperrung in nicht bestreikten Betrieben, einen Minderheitenschutz sowohl für Dänen und Sorben als auch für die deutsche Volksgruppe der Sinti und Roma und schließlich um die Frage: Soll ausdrücklich die Befugnis des Gesetzgebers anerkannt werden, durch Förderungsmaßnahmen für eine tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter zu sorgen?

Negative Grenzen oder positive Staatsziele

Ob und in welcher Weise das Grundgesetz fortzuschreiben ist, hängt nicht zuletzt davon ab, was wir von einer Verfassung erwarten.

Das als Provisorium gedachte Grundgesetz hatte sich neben den Organisationsregeln für die Staatsorgane im wesentlichen auf klassische Freiheits- und Abwehrrechte beschränkt, die — wie die Meinungs-, Handlungs- und Berufsfreiheit oder die Eigentumsgarantie — dem Staat Grenzen setzen, also festlegen, was der Staat nicht darf, und deren Einhaltung notfalls vor den Gerichten eingeklagt werden kann. In dieser Selbstbeschränkung hat sich das Grundgesetz als praktikables Instrument für den Aufbau einer freiheitlichen Demokratie bewährt. Es genießt zu Recht hohe Wertschätzung. Seine im wesentlichen veränderte Fortgeltung als Verfassung für Gesamtdeutschland wäre daher sicherlich kein Unglück. Damit könnten sich namentlich solche Bürger zufriedengeben, deren Lebenszuschnitt nichts zu wünschen übrig läßt und welchen die Garantie der klassischen Freiheits- und Abwehrrechte genügt, um ein selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben abzusichern.

Aber soll sich eine Verfassung wirklich nur auf das beschränken, was die Staatsorgane nicht dürfen und was einklagbar ist? Das wäre nicht einmal erwünscht. Denn dann hätte in allen verfassungsrechtlich relevanten Fragen das Verfassungsgericht, also gegebenenfalls eine Mehrheit von fünf Richtern, stets das letzte Wort. Für die Verwirklichung der Verfassung sind aber nicht allein die Gerichte, sondern vor allem der Gesetzgeber und auch die Exekutive verantwortlich. Es ist durchaus sinnvoll, diese Staatsorgane durch positive Zielsetzungen von Verfassungs wegen in die Pflicht zu nehmen und für die Staatspraxis Prioritäten zu setzen. Das Grundgesetz enthält bereits einige allgemeine Verfassungspostulate wie das Demokratieprinzip, die Rechtsstaatsidee und das Sozialstaatsangebot, die von erheblicher rechtlicher Bedeutung sind. Es ist an der Zeit, diese Postulate durch positive Staatszielbestimmungen und Verfassungsaufträge im Sinne des zitierten Reformkatalogs zu ergänzen. Sollten wir nicht insbesondere die in internationalen Vereinbarungen bereits anerkannten sozialen Rechte endlich auf die Ebene des Verfassungsrechts anheben? Nach dem weltweiten Sieg der Marktwirtschaft und dem Zusammenbruch sozialistischer Kollektive besteht doch wohl ein vermehrtes Bedürfnis, die soziale ebenso wie die umweltverträgliche Ausrichtung unserer Rechtsordnung unzweideutig zum Ausdruck zu bringen — im Sinne jener Einsicht aus dem Entwurf für eine neue Schweizer Verfassung: Die Stärke des Volkes mißt sich am Wohl der Schwachen.

Der Entwurf einer neuen brandenburgischen Landesverfassung ist hier recht lehrreich. Zur Vermeidung von Enttäuschungen tritt er ausdrücklich dem Irrtum entgegen, Staatszielbestimmungen könnten in gleicher Weise vor Gericht erzwingbar sein wie die klassischen Freiheitsrechte. Aber zugleich verpflichtet er die Staatsorgane auf die Verwirklichung der Staatszielbestimmungen und stützt das durch einklagbare flankierende Maßnahmen ab. So heißt es zum Recht auf Arbeit:

„(1)Das Land anerkennt das Recht auf Arbeit, welches das Recht jedes einzelnen umfaßt, seinen Lebensunterhalt durch frei gewählte Arbeit zu verdienen. Neben dem Bund ist auch das Land verpflichtet, im Rahmen seiner Kompetenzen und Kräfte für die Verwirklichung dieses Rechtes zu sorgen, insbesondere durch eine Politik der Vollbeschäftigung und der Arbeitsförderung.

(2)Unentgeltliche Berufsberatung und Arbeitsvermittlung werden gewährleistet. Soweit eine angemessene Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, besteht Anspruch auf Umschulung, berufliche Weiterbildung und Unterhalt.

(3)Die Arbeitnehmer haben ein Recht auf sichere, gesunde und menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Männer und Frauen haben Anspruch auf gleiche Vergütung bei gleichwertiger Arbeit.

(4)Auszubildenden, schwangeren, alleinerziehenden, kranken, behinderten und älteren Arbeitnehmern gebührt besonderer Kündigungsschutz.“

Breite Reformdiskussion und Volksabstimmung

Über den Umfang einer Verfassungsreform und über den wünschenswerten Inhalt einer gesamtdeutschen Verfassung mag man im einzelnen streiten. Unerläßlich erscheint aber zweierlei, nämlich einmal eine möglichst breit angelegte Reformdiskussion und zum anderen die Annahme einer gesamtdeutschen Verfassung durch eine echte Volksabstimmung. Insoweit zeichnet sich in der evangelischen Kirche, im DGB, in mindestens zwei Parteien und in gesamtdeutschen Bürgerrechtsbewegungen wie dem Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder eine erfreuliche Übereinstimmung ab. Dies schließt die Bereitschaft ein, Anfragen und Erfahrungen aus dem Bereich der früheren DDR aufzunehmen, eingedenk einer Erfahrung der Lernpsychologie: Fremdes wird eher als Eigenes angenommen, wenn Eigenes hinzugefügt werden kann.

Der Entschluß, das Volk durch eine Volksabstimmung an der endgültigen Entscheidung über Verfassungsänderungen zu beteiligen, würde einen heilsamen Zwang zu der erwünschten vorbereitenden Reformdiskussion erzeugen. Beides zusammen dürfte geeignet sein, die Integration aller Bürger in den neuen gesamtdeutschen Staat und die Identitätsfindung des vereinigten Volkes zu fördern. Vielleicht ließe sich dadurch auch ein wenig der Nachteil ausgleichen, daß uns die Dynamik des Einigungsprozesses und die Priorität wirtschaftlicher Schwierigkeiten bislang wenig Spielraum für die Entwicklung einer gemeinsamen politischen Kultur gelassen haben. Davon abgesehen sind Volksentscheide über die Verfassung eines neuen Staatswesens in allen modernen Demokratien, die etwas auf sich halten, selbstverständlicher Ausdruck der Volkssouveränität und gleichsam der Taufakt. Auch ist es ein Gebot der politischen Kultur, daß eine so bedeutsame Entscheidung wie die deutsche Einigung nicht über den Kopf des Volkssouveräns hinweg allein von den Regierungen und Parlamenten verantwortet wird, daß vielmehr die Bürger wenigstens die Chance erhalten, sich durch eine Volksabstimmung mit der Verfassung des deutschen Staatswesens zu identifizieren. Schließlich waren es nicht die Regierungen und Parlamente, sondern Teile des Volkes, die in der früheren DDR die Umwälzung bewirkten. Schließlich haben wir in der Bundesrepublik seit 40 Jahren mit dem ausdrücklichen Versprechen des Grundgesetzes in der Präambel und in Artikel 146 (alter Fassung) gelebt, daß über die Einheit und jedenfalls über eine gemeinsame Verfassung das gesamte deutsche Volk in freier Selbstbestimmung entscheiden soll. Es darf nicht sein, daß der Weg in den Gesamtstaat mit dem Bruch dieses Versprechens belastet wird, der sich langfristig als verhängnisvoller Geburtsfehler erweisen könnte. Helmut Simon

Der Autor war von 1970 bis 1987 Verfassungsrichter. Die Rede wurde auf dem Kirchentag in Dortmund gehalten. Simon war 1977 und 1989 Präsident des Evangelischen Kirchentages.