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Marburger Echo

Zur ersten internationalen Pasternak-Konferenz in Marburg  ■ Von Marie-Luise Bott

Es gibt hier sehr wenig gerade Straßen; es gibt hier überhaupt sehr wenig Straßen, die auf der Erde liegen; folgendes aber gibt es hier: Du bleibst stehen in einem Halbdunkel, aufgetürmt aus uralten Häusern, die wie Tannenzapfen aus Stockwerken bestehend, ineinander geschachtelt sind: ein Haus endet, und über ihm beginnt das zweite; dann ein sich entfernender Flügelschlag von Flieder, und derselbe dunkle Tannenzapfen aus aufeinandergestapelten Häusern setzt sich weiter fort, wobei er bereits den kleinen alten Himmel verdeckt. Dann, wenn du dich in diesem adretten Halbdunkel zurechtfindest, bemerkst du ein krummes, graues Sträßchen, das von oben herunterfließt und sich in eigensinnigen, merkwürdigen Biegungen ergießt.“ (Den 17.Mai 1912 an die Schwester Josefina).

Michael Lomonossow kam 1735 nach Marburg, um dort Naturwissenschaften und Philosophie zu studieren. Aber bald schon beschäftigte er sich mit Literatur, schrieb Oden und verließ die Stadt nach vier Jahren als Begründer der neueren russischen Literatur. Die Brüder Grimm kamen hierher, um Jura zu studieren. Sie reisten ab als Märchensammler. Boris Pasternak kam zum Philosiophiestudium nach Marburg. Man ahnt bereits, wohin das führte.

Nur ein Semester lang studierte der damals 22jährige Patsernak bei dem Neukantianer Hermann Cohen, bei Paul Natorp und Nicolai Hartmann, bis er beschloß, sich von nun an ausschließlich der Dichtung zu widmen.

Zwei Werke Pasternaks über diese innerlich sehr konfliktvolle Zeit gibt es: das Gedicht Marburg, das er mehrfach und zuletzt noch drei Jahre vor seinem Tod überarbeitete, und seine erste autobiographische Prosa von 1930, derGeleitbrief. Im vergangenen Jahr erschien, kurz nach der russischen Erstausgabe, auch der wunderschöne Band der Briefe aus Marburg, herausgegeben und übersetzt von Sergej Dorzweiler im Marburger Verlag Blaue Hörner.

1990 gedachte man des 100.Geburtstags von Boris Pasternak, es gab Jubiläumsfeierlichkeiten in Moskau und aller Welt. Die Marburger dagegen ließen sich Zeit mit ihrer Konferenz. Die Planung von Hans-Bernd Harder und Sergej Dorzweiler vom Marburger Institut für Slawische Philologie sowie von Konstantin und Michail Poliwanow vom Moskauer Institut für Weltliteratur war vorzüglich, die Finanzierung durch die deutsche Forschungsgemeinschaft großzügig. Dennoch machte man sich eher tagungsmüde aus der Sowjetunion, Amerika, Kanada, England, Italien, Polen, Frankreich und Deutschland auf den Weg nach Marburg, zögernd, ob man den schon in Oxford gehaltenen Vortrag noch einmal überarbeiten solle oder nicht. Aber dann wurde die Marburger Tagung zu etwas unerwartet Besonderem.

Wie kam es, daß sich die Marburger Tagung so wohltuend von früher erlebten internationalen Slawisten- Kongressen unterschied? War es die neue Politik der Sowjetunion, die endlich „die Schleusen öffnete“ und manche Slawisten-Seele milder stimmte?

Oder lag es daran, daß die Auswahl der Referenten einfach sehr gut getroffen war, das Niveau fast durchgehend hoch und mit 25 Referaten an fünf Tagen auch quantitativ erträglich blieb? Trug die Gegenwart von Pasternaks heute 67jährigem Sohn Jewhenij Borissowitsch mit dazu bei, diesem liebenswürdigen Gralshüter, dem wir — zusammen mit seiner Frau Jelena Wladimirowna — eine Reihe sehr schön gestalteter Editionen aus dem Archiv des Vaters verdanken, und der mit einem Ausdruck freundlicher Müdigkeit den Referaten folgte?

Die lange vorenthaltene Lust an unmittelbar nachvollziehbarer Geschichte war jedenfalls offensichtlich. „Die Marburger Konferenz“, sagte Jewjenij Borissowitsch, „versetzt einen wirklich in die historische Umgebung von Pasternaks Jugend. Und obwohl sie eigentlich an dem Tag begann, an dem wir gewöhnlich seines Todes gedenken — er starb am 30.Mai —, ließ doch die Stadt selbst, das Empfinden von Geschichte als Unsterblickeit des Menschen, die Tatsache, daß hier die erste Gedenktafel der Welt für Pasternak eingeweiht und eine Straße nach ihm benannt wurde — all das ließ vielmehr an ein Jubiläum seines Lebens und nicht seines Todes denken. Während der Feierlickeiten und Tagungen des vergangenen Jahres zog noch einmal Pasternaks ganzes Leben an uns vorüber. Doch mir scheint, die Marburger Konferenz zeichnet sich durch etwas Besonderes aus: Sie markiert den Anfang des weiteren Schicksals von Pasternak und seinem Werk, das nach 100 Jahren nun, wie ich hoffe, endlich greifbare Realität wird. Also das heißt: eine ernsthafte Erforschung des Werkes und ein Verstehen seiner Bedeutung, das schon ganz frei von allem Sensationellen ist.“

So berichteten auch zuallererst die Moskauer Herausgeber der ersten akademischen Werkausgabe Pasternaks, allen voran Michail Gasparow. Er begann in seine geschätzten ironischen Art mit einem Zitat von Jewjenij Samjatin: „Wenn alles zerfällt, fängt man an, babylonische Türme zu bauen.“ Von diesem Prinzip habe sich offenbar das Institut für Weltliteratur leiten lassen, als es gleich zwanzig akademische Werkausgaben auf einmal beschloß. Was die auf 15 Bände angelegte Pasternak-Ausgabe betreffe, so fehle es dafür sowohl an Material wie an ausreichend qualifzierten Mitarbeitern. Außerdem sei die verlegerische Situation im Lande zur Zeit katatstrophal. Also bleibe „nur die Hoffnung auf die begeisterte Anstrengung aller Herausgeber“, die allein auch die früheren Ausgaben zuwegebrachte. Die alte „optimistische Tragödie“ also.

Auf die Frage, wie es um die Literaturwissenschaft in der Sowjetunion stehe, ob sich eine neue Schule abzeichne, die großen russischen Formalisten wie Jurij Tynjanow oder Boris Ejenbaum etwa neu wiederdentdeckt würden, erwiderte Gasparow: Natürlich bemühten sich seine Kollegen und er, diese Tradition weiterzugeben. Doch einer neuen Theorie- oder gar Schulbildung sei die Zeit nicht günstig. Die besten Studenten gingen jetzt in die Archive und übernähmen editorische Arbeiten.

Michel Aucouturier, Lazar Fleishman und Sergej Dorzweiler widmeten sich dem Thema „Pasternak und die Philosophie“. Deutlich wurde, daß von einem „Bruch“ Pasternaks mit der Philosophie so ohne Weiteres nicht die Rede sein kann. Vielmehr nahm er seine philosophischen Studien — wie auch seine kompositorischen Erfahrungen in der Musik — mit hinein in die Dichtung und gestaltete sie um zu einer Art poetischen Metaphysik: „Da es aber kein zweites All gab, von dem aus man die Wirklichkeit aus dem ersten hätte hochheben können“, mußte man es eben schaffen (Gleitbrief).

Michail Poliwanow verfolgte diesen Begriff des „zweiten Weltalls“ vomGeleitbrief bis hin zu Doktor Schiwago. Der späte Pasternak wollte ihn nach allem erfahrenen Leid ausdrücklich christlich verstanden wissen.

Geprägt von der Tartuer Schule um Jurij Lotman, ging Lazar Fleishmann, wohl der beste Pasternak-Forscher seines Landes, 1974 an die Universität Jerusalem und dann nach Stanford, Kalifornien. Verspürt er bei der Wiederbegegnung mit der Literaturwissenschaft seines Landes — sowohl der einst offiziellen, sowjetisch-ideologischen wie dem eng vertrauten Kreis seiner ehemaligen Kollegen — eine Entfremdung? „Fatalerweise treffe sich keine Vertreter des ersten Typs“, erwiderte Fleishmann aufgeräumt. „Sie sind aus dem allgemeinen Erscheinungsbild der wirklichen Wissenschaft klammheimlich verschwunden. Und das ist wahrscheinlich gut so.“ Die andere Gruppe dagegen sei jetzt sehr aktiv. Und sie fänden, bei aller Unterschiedlichkeit in der Methodik, eine gemeinsame Sprache.

Höchst spannend war der Bericht von Marietta Tschudakowa über die Rezeption von Doktor Schiwago in der Sowjetunion heute. M. Tschudakowa lehrt am Gorkij-Literatur-Institut in Moskau, einer spezifisch sowjetischen Einrichtung aus dem Jahre 1921: Dort werden zukünftige Schriftsteller ausgebildet.

Patsernak begann Doktor Schiwago, dieses Geschichte der russischen Intelligenz in der Revolution, 1944, als es noch Hoffnung auf Veränderungen nach dem Ende des Kriegs gab. Eine zweite Arbeitsphase am Roman dauerte bis 1956. Das Erscheinen von Doktor Schiwago 1988 in der Sowjetunion kam gut 30 Jahre zu spät. Der eigentliche Resonanzboden, die Generation von Pasternaks Zeitgenossen, war nicht mehr da. Seine Flaschenpost wurde schon von einer ganz anderen, „postsowjetischen“ Gesellschaft gefunden, die der Litertaur neben den öffentlichen Genres von Zeitung und Fernsehen bereits einen anderen Stellenwert zumaß.

Marietta Tschudakowa staunte, wie sehr sich die Studenten Zeit ließen mit der Lektüre von Doktor Schiwago. Anderes — Bulgakow, Platonow, Nabokov — wurde vorgezogen. Dann waren viele Studenten enttäuscht und verstanden nicht, weshlab dieser Roman einmal verboten war. Um die Reaktionen genauer zu verstehen, machte Tschudakowa im März 1990 eine Umfrage über Lektüre-Eindruck und Bewertung des Romans unter den exterenen Studenten des Literatur-Instituts. Der eine bezog „geistige, christlich-moralische Informationen“ aus dem Roman, ein anderer nannte ihn „das letzte klassische Werk der großen russischen Literatur“, nahm ihn also nicht mehr als Teil des lebendigen literartischen Prozesses wahr, sondern stellte ihn gleich aufs goldene Regal der Klassik. Einer aber brachte die Situation der heute 25jährigen so zum Ausdruck: „Uns irritiert das Lyrische des Romans. Er scheint uns zu weich. Wir sind schon anders. Wir sind gewohnt, uns dem Leben gegenüber zu verteidigen. Wenn man eingekeilt ist mitten im Kampf, erreicht einen die Berührung einer freundlich milden Hand nicht mehr.“

Ist Pasternak für diese Generation also schon passé? Tschudakowa vermeint das, vor allem auch im Hinblick auf die nachfolgende Generation. „Für die Rezeption dieses Romans ist eine vielschichtige, differenzierte geistige Kultur der ganzen Gesellschaft nötig. Und die entsteht bei uns gerade erst wieder.“

Viele der Vorträge befaßten sich mit westeuropäischen Bezügen im Werk Pasternaks: zu Rilke, Verlaine, Gottfried Keller, dem deutschen Expressionismus, Raffael, Schiller oder Goethe. Nun gehört es zu den freudigen Überraschungen solcher Kongresse, daß man auf ihnen jetzt auch ostdeutschen KollegInnen begegnet. Zwei Slawistinnen von den Universitäten Greifswald und Leipzig waren — noch — unter den Zuhörern. Die eine vermißte eine Reflexion des spezifisch Russischen bei Pasternak: sein Verzicht auf Emigration.

Auf der Marburger Konferenz herrschte eine vorzügliche Stimmung. Auch die Repräsentanten der Stadt ließen sich anstecken: Ein Marburger Literatur-Museum soll entstehen, das von der Familie Pasternak mit bestückt werden wird, ein Pasternak-Fonds zur ärztlichen Betreuung russischer Kinder wird in Marburg gegründet.

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