: Für einen Volksentscheid
■ An welche Tradition soll man anknüpfen?
Ein Glück, daß nicht ich zwischen Bonn und Berlin zu wählen habe. Ich wüßte nämlich wirklich nicht, welche von den beiden Städten ich als Regierungssitz vorziehen würde. Berlin ist zwar eine Metropole mit großen Traditionen, aber eine funktionierende Infrastruktur wie in Bonn ist für die Staatsführung auch nicht gerade belanglos. Mehr als vier Jahrzehnte lang wurde nun mal in Bonn Deutschland- und Weltpolitik gemacht; Deutschland und die Welt haben sich mittlerweile daran gewöhnt. Jetzt soll alles geändert werden, weil... Ja, warum eigentlich? Weil Berlin die größte deutsche Stadt ist und nur sie Paris, London oder Tokio ebenbürtig sein kann? Weil nur ein urbanisierter Riese sich heute als vollwertige Hauptstadt fühlen kann? Was für unsinnnige Minderwertigkeitskomplexe bei einer der führenden Industrienationen der Welt!
Es geht offensichtlich um Symbole, obwohl mir nicht ganz klar ist, um welche. Berlin hat doch keine Jahrhunderte alte Haupstadtvergangenheit! Symbole sind eigentlich eine gute Sache, aber ihre Kosten sollten in Grenzen bleiben. Beim Umzug nach Berlin könnte davon keine Rede sein. Denn wenn schon umziehen — dann vollständig. Die staunende Welt würde die als rational und logisch denkend geltenden Deutschen nicht wiedererkennen, wenn sie als „Kompromißlösung“ den Regierungssitz zweiteilen würden. Bisher galten nur die Russen als eine Nation, die sich selber Probleme schafft, um mit ihnen danach heroisch zu kämpfen.
Ich glaube, die beste Entscheidung wäre, eine Volksabstimmung herbeizuführen. Ich verstehe die Politiker nicht, die sich dem vehement widersetzen. Über solche Fragen wie die des Regierungsssitzes sollten wirklich die ganze Nation abstimmen können und nicht nur die für vier Jahre gewählten Abgeordneten. Was tun, fragen sich einige, wenn es beim Referendum nur eine knappe Mehrheit geben wird. Ist denn eine (zu erwartenede) knappe Mehrheit bei den Bundestagsabgeordneten etwas besser?
Hinter einer beim Volksentscheid getroffenen Lösung würden Dutzende Millionen Menschen stehen. Das wäre demokratisch und für die Unterlegenen tolerierbar. Obwohl ich nicht ausschließe, daß solch ein Urnengang vielen Deutschen qualvolle Augenblicke des Zweifels bringen würde. Ich persönlich weiß auch nicht: Bonn oder Berlin? Glücklicherweise würde nicht ich diese Frage zu entscheiden haben.
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