Unversöhnliche Erinnerungen?

■ Eine Diskussion deutscher und sowjetischer Zeitzeugen des II. Weltkrieges/ »Feindbild« verblaßt

Berlin. Deutsche und sowjetische Zeitzeugen reden miteinander, arbeiten Lebensgeschichte auf, um so an Wahrheiten von Verlauf, Ursachen und Folgen des Zweiten Weltkrieges heranzukommen. Ein »zu weites Feld« für nur eine Diskussionsrunde im sowjetischen Haus der Wissenschaft und Kultur vom Samstag abend. Obwohl das Thema eingegrenzt, »Unversöhnliche Erinnerungen?« betitelt, eine Chance hatte, nicht auseinanderzubrechen, ließ die methodische »Moderation« von Heubner es zu, weniger Fragen zu beantworten als nach zwei Stunden am Ende an Kremer, Elperin, Basistov und Tschornaja, von Kügelgen, von Hammerstein und Graf Einsiedel zu stellen blieben.

Mit dem faschistischen Überfall am 22. Juni '41 verschränkten sich ihre Schicksale. Prof. Ilja Kremer, Jahrgang 1922 — nur acht Prozent seines Jahrganges haben den Krieg überlebt. In Gomel, Belorussland geboren, wuchs er in einer russischen Provinz auf, studierte in Leningrad und Moskau Geschichte — charakterisiert er seine Generation: »Sie war davon überzeugt, daß sie im besten Land der Welt leben würde, glaubte an ein Paradies auf Erden.« Diese Religion verband sich mit einem weiteren (stalinistischen) Dogma: »Wir sind von Feinden umgeben, Feinde gibt es überall.« Trotzdem habe es bis zum Kriegsausbruch keinen Haß auf die Deutschen gegeben. Prof. Juri Basisitov: »Im Krieg sahen wir Deutsche nicht nur als Feinde, zwar nicht unbedingt als Freunde, aber auch als Verbündete.« Auch die Germanistin Tschornaja zählt sich zu den Freunden der Deutschen: Die russische Intelligenz hatte »immer einen hohen Respekt vor der deutschen Kultur«.

Der ehemalige Chefredakteur der 'Neuen Berliner Illustrierten‘ und des 'Sonntag‘, Berndt von Kügelgen, hatte am 19. Juni 1942, seinen »Schicksalstag«: Als Leutnant und Führer einer Kompanie geriet er in Gefangenschaft. Seine Entscheidung, Antifaschist zu werden, hat nicht nur mit dem Erlebnis der ersten Kriegstage zu tun. Für einen der Unterzeichner des Gründungsdokumentes des Nationalkomitees Freies Deutschland ist das »Unversöhnliche« die Begegnung zweier Begriffe: Verräter und Patriot. »Die einen nennen uns Verräter und sagen, wir hätten uns niemals gegen Hitler stellen sollen, die anderen nennen uns Patrioten, da wir wenigstens den Versuch unternommen haben, Hitler zu stoppen.«

1941 war Franz v. Hammerstein 21 Jahre alt, Soldat der Deutschen Wehrmacht. »Gott sei Dank« hatte er — ähnlich wie Ilja Kremer — einen Augenfehler und brauchte nicht an die Front. Von Hammerstein war »auch einigermaßen immun« gegen die Begeisterung für den Krieg und für das Soldatsein. »Leider waren doch ja sehr viele begeistert für den Krieg in Deutschland.«

Parallelen bei Basistov: »Die Vergöttlichung Stalins, den Fanatismus; ich habe als junger Mensch nicht verstanden, warum ein Mann ein Vater der Pioniere, der Feuerwehrleute, der Sportler und so weiter ist«.

V. Hammerstein erzählt: »An Desertion hat keiner gedacht. In Stahnsdorf war nur ein einziger, ein Holländer, der sich freiwillig zur Front meldete, weil er überlaufen wollte.« Als Teilnehmer der Widerstandsbewegung wurde v. Hammerstein ins KZ Buchenwald verschickt.

Juri Elperin, Übersetzer und Publizist, ist mit sechs Jahren mit den Eltern nach Berlin gekommen. 1933 wurde der Vater mit der Familie, ausgewiesen, sie gingen nach Paris, von dort nach Moskau, »ohne uns der Gefahr bewußt zu sein, was es bedeutet, kurz vor den Kriegsausbruch nach Rußland zu kommen.« Er hat bei allem an das Menschliche gedacht. Unversöhnlichkeit kann es als solches für ihn nicht geben. »Das von oben verordnete ‘Feindbild‚ der Deutschen ist weitgehend verblaßt.«

Graf Einsiedel, Jahrgang 1921, hat am 1. September 1939 sein Abitur gemacht, wurde Soldat, machte den Polen-Feldzug mit und wurde Jagdflieger. Am 30. August 1942 wurde er bei Stalingrad abgeschossen und geriet in Gefangenschaft. Nach fast 50 Jahren kehrte er zurück: »Eine Filmtournee, ‘Wiedersehen mit Rußland‚, und ich kam an die Stellen, die ich im Krieg erlebt hatte«. Er zieht das Fazit: »Unversöhnliche Erinnerungen? Ja, es gibt gewiß Veteranen auf beiden Seiten, die so Schlimmes mitgemacht haben, daß sie nicht verzeihen können. Ich glaube jedoch, daß eine große Sympathie zwischen dem deutschen und dem russischen Volk herrscht.« André Beck