: Zweiter Frischegrad
Sergej Slonimskis Oper „Der Meister und Margarita“ bei den Dresdner Musikfestspielen ■ Von Irene Tüngler
Rückwärts aus dem Bühnenhintergrund füllen sie vokal den Saal, die Aristokraten vom Bolschoi! Aber das ist auch schon das einzige, was sich zum uneingeschränkten Lob eines an sich bemerkenswerten Kulturereignisses sagen läßt. Zu vermelden ist die Uraufführung einer Oper nach Michail Bulgakows Der Meister und Margarita. Ort: Dresden, Ausführende: das erste nichtstaatliche sowjetische Musiktheater „Forum“, Dirigent: kein Geringerer als Michail Jurowski. Seit zwanzig Jahren, seit dem ersten Zeitschriftenabdruck des Romans, lag die Partitur Sergej Slonimskis (Jahrgang 1932) versteckt auf einer Moskauer Datsche. Die geistige Konterbande aus diesem Himmel-, Welt- und Höllenbuch verschreckte beim ersten Vorsingen die Theaterbürokratie nachhaltig und wurde offensichtlich bis in jüngste Tage mißtrauisch beäugt.
Gerade auf diese scheint es dem Komponisten, den Librettisten und den Moskauer nichtstaatlichen Künstlern — welche in Wirklichkeit für gutdotierte Stückverträge zusammenengagierte Staatskünstler sind, die so an einem Abend mehr als sonst im Monat verdienen — angekommen zu sein. Man artikulierte mit äußerster Sorgfalt, es ist kein Wort Text in der Oper, das nicht im Roman stünde, und die Instrumentierung ist so sparsam, daß nichts von der Botschaft verlorengeht.
Dafür fast alles vom Theater. Das Libretto wurde mit einer tödlichen Instinktsicherheit von allem Farbigen, Grotesken, Komischen des Buches befreit. Der Kater Behemot, mein Liebling, wenn er Primuskocher repariert oder Lachs „vom zweiten Frischegrad“ verzehrt, ist zu einer Piccoloflöte dezimiert; an die Variétévorstellung mit der Desillusionierung des Moskauer Volkes buchstäblich bis auf die Unterhosen wird nicht einmal gedacht... Was übriggeblieben ist, viel selbstverständlich, die Pilatus-Jeschua-Geschichte, die eklig-tödliche Literaturkritikerdebatte, Margarita als Bewahrerin der Meister-lichen Manuskripte, handelt man tragisch herumstehend ab. Unendlich langweilig die statuarischen Zwiegesänge zwischen Jesus und Pilatus, entsetzlich das Dauerlächeln des Meisters, der gleichzeitig Jesus ist, und von grotesker Komik die Ermordung Judas' unter Mithilfe einer zur antiken Judäerin verkleideten russischen Romanzensängerin.
Margarita, Tatjana Monogarowa, war der Trost. Ein lyrischer Sopran, an dem es absolut nichts auszusetzen geben kann, und genau die Frau, von der man bei dem Namen Clawdia Chauchat träumt.
Jede Figur hatte ihr Instrument, ihre musikalische Reihe (kleine Aufsässigkeit noch bis in jüngste Zeiten des real-sowjetischen Musikbetriebes), ihr leitmotivisches Erkennungszeichen also. Mit dem Nachteil etiketthafter Abnutzung. Ensembles erfreuten den östlichen Nostalgiker mit jener unverwechselbaren Klang- und Rhythmik-Mixtur, die man, in scharfem Gegensatz zum echten englisch-amerikanischen, „Mos beat“ nannte. Angejazzte sinfonische Bigband vielleicht. Schwer beschreibbar.
Schade. Aber eben ein Versuch, Bulgakows Traum vom ewigen Hort des Menschen unter die Leute zu bringen.
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