DEBATTE: Wochen für das Leben
■ Der Bischof, die Abtreibung und die sozialen Bewegungen
Vom vergangenen Montag bis zum gestrigen Sonntag veranstaltete die deutsche katholische Kirche die Woche für das Leben. Von nun an sollen solche Wochen jedes Jahr stattfinden, die thematischen Schwerpunkte werden wechseln. Es geht um die „Schöpfung“, „die Annahme und Aufnahme von Fremden“, um eine „wertbezogene Politik“, die sich dem Leben jedes einzelnen verpflichtet weiß — „ob jung oder alt, ob geboren oder ungeboren, ob krank oder behindert“; also um Leben, das für alle Menschen „mehr ist als Überleben“. So der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann. Dieses Jahr stand das „ungeborene Kind“ im Mittelpunkt — angesichts der aktuellen „erregten Debatte über sein Lebensrecht“.
Das katholische System ethischer Normen ist in sich kohärent. Der Schutz des Lebens gilt ungeteilt, er umfaßt behinderte und chronisch kranke Menschen. Und er gilt für ungeborenes menschliches Leben. Die Fähigkeit der Menschen, sich selbst zu reproduzieren — gleichgültig, ob sie blödsinnig oder arm sind, in einem Land der Ersten oder Dritten Welt leben — ist für die katholische Ethik unantastbar. Jeder Mensch verantwortet sich in soweit ausschließlich vor Gott, vor ihm sind alle Menschen gleich, und jeder einzelne ist Ebenbild Gottes. Es gibt keine radikalere Formulierung des Gleichheitsgrundsatzes.
Dieser geschlossenen, aber stringenten Ethik steht die in sich widersprüchliche Moral des linken, liberalen und laizistischen Lagers gegenüber: Mal mehr, mal weniger wird für „Selbstbestimmung“ am Anfang des Lebens plädiert. Bei der Diskussion um den Paragraph 218 wird der Fötus zur Biomasse erklärt, im Protest gegen gentechnologische Experimente hingegen mit den höheren Weihen des Lebens ausgestattet. Utilitaristische Argumentationen für Genforschung und „Sterbehilfe“, für eine „sanfte“ oder offen erzwungene Bevölkerungskontrolle und für die immer häufiger eugenisch begründete Abtreibung werden von Vertretern staatlich-bürokratischer Rationalität wie auch von ihren inner- und außerparlamentarischen Kritikern benutzt: im Namen eines besseren (oder auch nur besser funktionierenden) Gemeinwesens.
Wenn die Eingriffe in das Leben, die jenseits des Paragraphen 218 stattfinden (partiell) abgelehnt oder für moralisch fragwürdig erklärt werden, so deshalb, weil es hier ersichtlich nicht allein um Selbstbestimmung geht, sondern auch um das sogenannte Gemeinwohl: Früher hätte man „Volksgemeinschaft“ gesagt, heute spricht man — innenpolitisch — von der „Solidargemeinschaft der Versicherten“ und — außenpolitisch — von der „Völkergemeinschaft“. Dagegen kann man argumentieren. Aber die Argumente sind dann ideologisch und inkonsistent, wenn der individuelle Utilitarismus auch nur an einem Punkt akzeptiert ist. Diese Inkonsistenz wird in Deutschland gelegentlich mit dem punktuellen Hinweis auf die nazistische Politik der „Ausmerze“ überspielt. Systematisch besteht das Problem aber gerade darin, daß diese Politik von einem interessenorientierten ethischen Opportunismus geleitet war — mit speziellen Akzenten.
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Die dogmatische, im Einzelfall des menschlichen Alltags natürlich vielfach gebrochene, katholische Ethik hatte sich in diesem Zusammenhang bewährt. Als das Wort „Erbhygiene“ in den intellektuellen Zirkeln der Weimarer Republik populär und konsensstiftend wurde, reagierte der Papst sofort: Per Enzyklika vom 13.Dezember 1930 wandte er sich gegen die aufstrebende sozialbiologische Lehre, gegen die immer stärker werdende Forderung zur Zwangssterilisierung sogenannter „Minderwertiger“. Keinem Individuum und keiner Gemeinschaft kam nach der Enzyklika casti conubii das Recht zu, einen Menschen „der von Gott geschenkten Gabe der Leiblichkeit“ zu berauben. Als die deutsche Regierung 1933 das Gesetz zur Zwangssterilisierung Behinderter, Geistesschwacher und Alkoholkranker erließ, reagierten die katholischen Bischöfe mit dieser Kanzelabkündigung: „Es ist nicht erlaubt, sich selbst zur Sterilisierung zu stellen oder Antrag zu stellen auf Sterilisierung eines anderen Menschen. Das ist die Lehre der katholischen Kirche.“
Kein Zweifel: Die katholische Kirche hat in der Zeit des Nationalsozialismus auch merkwürdige Kompromisse gemacht. Aber im Grundsätzlichen blieb sie konsequent. 1934 setzte sich der Münchner Kardinal Faulhaber mit der Parole auseinander, „sittlich sei alles, was dem Wohl des Volkes dient“. „Demnach könnte“, so Faulhaber damals noch hypothetisch, „ein Arzt auf den Gedanken kommen, die schmerzlose Tötung unheilbarer Kranker, auch der Geisteskranken, erspare dem Staat große Fürsorgemittel und diene deshalb dem Wohl des Volkes. Aber wirtschaftliche Rücksichten können das Sittengesetz nie außer Kraft setzen.“ 1941 folgten die von fundamentalistischem Mut getragenen Predigten des Münsteraner Bischofs von Galen und andere.
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In der gegenwärtigen Diskussion um den Paragraph 218 steht die katholische Kirche mit dem Rücken zur Wand. Die Reform im Sinne einer Fristenlösung kostet die Regierung Kohl/Genscher nichts, sie ist wahltaktisch opportun. Das größere Deutschland ist nicht nur protestantischer, es ist areligiöser — im Ostteil des Landes war die antikirchliche Propaganda von 1933 bis 1989 äußerst erfolgreich. Den Rest besorgen die Kräfte des Marktes. Die Bischöfe zwischen Köln und Fulda, Paderborn und München-Freising haben an Einfluß verloren.
In dieser Situation war die „Woche für das Leben“ eher Rückzug als Offensive. Sie verlief still, fand kaum Beachtung. „Nicht spektakuläre Aktionen und Gesten“ waren nach den Worten des deutschen Oberhirten das Ziel. Es ging um „die Umkehr der eignen Herzen“, um den „Wandel aus der Stille“. Fast scheint es so, als stünden die deutschen Katholiken vor einer Art innerer Emigration. Um so wichtiger die Zwischentöne. Bischof Lehmann wandte sich direkt an die, die er sowohl als Mitstreiter wie auch als Gegner betrachtet. Also an diejenigen, die zwar hinsichtlich der Abtreibung auf dem Selbstbestimmungsrecht der einzelnen betroffenen Frau beharren, die aber in vielen anderen wesentlichen Fragen der Manipulation des Lebens gewissermaßen katholisch argumentieren. „Die sozialen Bewegungen, die sich gegen die Benachteiligung und Unterdrückung in aller Welt engagieren“, so sagte Lehmann, „haben in der Frage der Abtreibung völlig versagt.“ Ähnlich der Bischof von Limburg, Franz Kamphausen: „Viele protestieren zu Recht gegen die Zerstörung der Umwelt, gegen mörderischen Waffenhandel und mörderische Kriege.“ Es sei gut, daß das Gewissen in diesen Fragen geschärft worden sei — „aber der Lebensschutz ist unteilbar“.
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Das ist ein deutliches Gesprächsangebot, eine Aufforderung zum gemeinsamen Nachdenken. Sie sollte ernst genommen werden. Haupthindernis dabei ist die Diskussion um den Paragraph 218. Der Gegensatz zwischen individueller Freiheit und normativem Zwang scheint nicht überbrückbar. Was die Strafbarkeit der Abtreibung angeht, so könnte die katholische Kirche nachgeben. Sie hat es nicht nötig, ihre Normen mit Hilfe staatlicher Sanktionsgewalt durchzusetzen. Die Indikationsregelung ist in ethischer Hinsicht ein fauler Kompromiß zwischen einer medizinisch-technischen Regelung und der Durchsetzung normativer Gesichtspunkte von Staats wegen. Die gesetzlichen Fristen für einen Schwangerschaftsabbruch sollten nach medizinischen und nicht nach halbherzigen moralischen Kriterien festgelegt werden. Gläubige Katholiken, wie auch alle anderen, die moralische Prinzipien ernst nehmen, können aber nicht akzeptieren, daß das dann entstehende Vakuum schlicht und einfach mit einem positiven Recht auf individuelle Selbstbestimmung ausgefüllt wird. Insofern hat der Streit um eine (Zwangs)Beratung Bedeutung.
Die Prozedur der Beratung braucht nicht als Zwang verstanden zu werden. So symbolisch sie auch immer sein mag, begrenzt sie den Anspruch auf individuelle Entscheidungsfreiheit dort, wo es um das Leben des anderen geht. Ein solches formelles Gespräch dokumentiert den Konflikt und die Verantwortung. Es dokumentiert die Anerkenntnis außerindividueller Normen — auch dann, wenn sie nicht eingehalten werden (können). „Selbstverständlich“, so sagte die Vorsitzende der Katholischen Frauengemeinschaft in dieser Woche, „müßte an einem solchen Gespräch auch der jeweilige Mann teilnehmen.“ Götz Aly
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