: Weddinger Freiheit
■ »Wilhelm Tell« in der Freilichtbühne Rehberge
Wie durch ein Wunder regnete es am vergangenen Freitag abend nicht, und die Freiheitsliebenden unter den Weddingern konnte sich vor der Freilichtbühne im Volkspark Rehberge versammeln, um danach Martern und Qualen, Tyrannenmord sowie kraftvolle Einigung der Schweizer Eidgenossen mitzuerleben. Manche hatten sich auf einen langen Kampf vorbereitet und ihre Tupperware mit gekochten Eiern, Nudelsalat und Altbierbowle randvoll gefüllt, andere wiederum schienen nur entschlossen, die Raucherlaubnis in Freilichttheatern gründlich auszunutzen. Erstere waren sicherlich enttäuscht, daß der Abend nur zweieinhalb Stunden dauerte.
Am Anfang gab es ein Problem. Der Volkspark Rehberge wäre der idyllischste Ort Gesamtberlins, läge er nicht direkt unter einer Anflugschneise. Das tut er aber, und die Schauspieler mußten im Zehnminutentakt das dumpfe Röhren aus dem Himmel überbrüllen, was wiederum gar nicht schlecht zur Interpretation des »Wilhelm Tell« die Prießenthaler Schauspieler paßte. Die haben nämlich das Umweltdrama »Tell« entdeckt. Das konnte man schon auf ihrem Bühnenprospekt erkennen, der eine lustvoll und mit Hingabe gepinselte, kaputte Landschaft um den Vierwaldstättersee darstellt. Hoffnungslos verhedderte Autobahnknäuel und zersiedelte Dörfer im Hintergrund, tote Bäume und rauchende Schlote vorn, Giftmülltonnen und Betonpfeiler auf der Bühne; ein Bild des Grauens, das unangenehm an die Werke H. A. Schults erinnerte, die mit Sicherheit zu den schlimmsten Folgeerscheinungen der Umweltkatastrophe gehören.
Zum Glück wurde der »Tell« unter der Regie von Martin Lüttge in annähernd historischen Kostümen gegeben, und der Reichsvogt Gessler trat auch nicht als Geschäftsführer von Sandoz auf, sondern rollte hoch zu Roß aus seiner hohlen Gasse. Den »Tell« spielte Martin Lüttge und zwar so, daß der wackere Landmann weder unangemessen dem Heldentum ausgeliefert noch ob seiner Freude an sinnvoll gestalteter Freiheit verhohnepiepelt wird. Wenn Lüttge sagt: »Die Axt im Haus erspart den Zimmermann«, dann meint er ganz im Ernst, daß man was sparen kann, wenn man was kann. Diesem Tell verzeiht man es auch gern, daß er lieber biologisch-dynamisch anbauen geht, als seine Zeit rütlischwörend auf grünen Parteitagen zu verplempern. Am liebsten pflanzte er überhaupt nur noch letzte Apfelbäumchen ein.
Daß ausgerechnet dieser Mann bei seinem Rückzug ins Private einen Hut zu grüßen vergißt und damit ins Politische verwickelt wird, hat seine ganz eigene tragisch-ironische Qualität.
Manche Zuschauer waren vom puren Ablauf der Geschichte so ergriffen, daß sie andere, fröhlicher Aufgelegte, anschnauzten, sie könnten »auch sehr sehr gut ohne ihr dämliches Gekicher auskommen«. Offensichtlich fanden sie, daß zwischen Schiller, der nie in der Schweiz war, und Karl May, der nie im »Wilden Westen« war, immer noch ein gewisser Unterschied wahrzunehmen sei, was übrigens für die besten Momente der Lüttge'sche Inszenierung zum Glück nicht stimmte. Allerdings waren die Bildungsbewahrer gegenüber den Schulklassen zahlenmäßig in der Minderheit und letztere ließen es sich überhaupt nicht nehmen, bei Weisheiten wie »Der wack're Mann denkt an sich selbst zuletzt« oder »Durch diese hohle Gasse muß er kommen« mit Pfeifen und Johlen untereinander auszumachen, daß man das schweinisch zu deuten habe. Aus denselben Reihen scholl, nachdem es auf der Bühne endlich hieß: »Der Gessler ist erschossen« ein lautes und überzeugtes »Juhu«. In solchen Momenten ist man fast geneigt, zu glauben, das Theater habe doch noch eine Zukunft. Doja Hacker
Weitere Aufführungen des Wilhelm Tell in der Freilichtbühne Rehberge am 22. und 23. Juni, jeweils 20 Uhr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen