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Abtreibungsrevue

„Haben Sie ein I“ im Berliner Grips-Theater  ■ Von Simone Schneider

Wehendes Haar, entblößte Schultern, zerfetzte Gewänder, den archaischen Trommelrhythmus kreatürlich in rituell zuckenden Körperbewegungen barfüßig gestampft, sprachlich reduziert auf den vermeintlichen Schlachtruf „Schwanz ab!“. So stellt sich Regisseur Michael Klette die Anarchie im CSU-Hinterland vor, wo zwischen Prozeßakten, Vernehmungsprotokollen und Patientenkarteien karrieresüchtige Justizbeamte in Schauprozessen und Präzedenzfällen die christlich-demokratische Grundordnung zementieren.

Das Stück von Florian Felix Weyh, das in allen bisherigen Aufführungen auf gespaltene Kritik stieß, weil es unentschieden zwischen Sozialschnulze und Boulevard bleibt, hat scheinbar erst im Grips zu seiner wahren Form gefunden: Der Prozeß von Memmingen nun endlich eine Abtreibungsrevue. Als Nummern-Girls treten dabei sechs Frauen auf und schneiden den bundesrepublikanischen Gesellschaftskuchen an. Von der blutig gebärenden Bauersfrau bis zur Punkerin, die todesmutig immer noch auf freie Liebe insistiert, von der verführten Katholikin bis zur wahlhelfenden Bäckereibesitzerin, von der frauenengagierten Oma Engelmacherin bis zur türkischen Mitbewohnerin, die in Ata Türks Harem eine geknechtete Existenz als „Unterleib“ führt, alle tragen sie das verräterische „I“ (für „Interruptus“?) „wie den Judenstern“. Und weil uns das alle etwas angeht, verliest eine dröhnende Donnergottesstimme über Lautsprecher zahlreiche Namen auch im Publikum (zufällig oder nicht) anwesender Frauen zur Vorladung.

Da jedoch die jeweiligen Verhöre der betroffenen Frauen, bei Weyh durch eine Richterin, weder an innerer noch an äußerer Spannung etwas hergeben, rettet sich Regisseur Klette in plakative Bildhaftigkeit. So müssen die Schauspielerinnen im antikisch angehauchten Bühnenbild (ebenfalls von Klette) ihre mythische Kraft im gemeinsamen Hochstemmen eines Pappmaché-Felsens beweisen, der gegen den stufenhaft aufgebauten Olymp angerollt werden soll, wo Justitia im Sitzen, Stehen, Schreiten unter der schwarzen Robe ihre eleganten Beine zeigt. Die Angst vor einem Frosch treibt die archaische Gemeinschaft im entscheidenden Moment jedoch auseinander. Der Aufstand bleibt also reine Fiktion, und statt gegen die Behörden anzurennen, schaukeln die Frauen nur ein TV-Gerät, aus dem das Gesicht der Richterin mutterkuchenbreit und blutig grinst. Nach diesem ersten Höhepunkt schließt sich noch ein zweiter an. Ein aufsässiger Rechtsreferandar muß sich vor versammelter Frauschaft ausziehen, in Primatenhaltung röhrt die Ländlerin „Fellatio! Bei dir selbst!“ und der aufmerksame Zuschauer verpaßt beinahe den dritten Höhepunkt, wie nämlich die Richterin das Opfer ihrer eigenen Inquisition geworden ist. Entkrampfung bringt das Stückende, wenn die wildgewordenen Frauen in reiner Ursprünglichkeit um den veritablen Scheiterhaufen tanzten, den Klette hinter dem Gripstheater anzünden ließ.

„Es geht bei dem Stück nicht um die Nachvollziehbarkeit des Prozesses“, schreibt Weyh, der seinen Text dennoch sehr eng an die Aussageprotokolle angelehnt hat. Dem Grips- Theater ging es ursprünglich einmal um das politisch-pädagogisch-emanzipatorische Jugendstück und um realitäts- und problemnahen Spielstil. Publikumsnah sind sie geblieben und auch zielgruppenorientiert: für Pubertierende über 30.

Haben Sie ein I? von Florian Felix Weyh; Liedertexte von Volker Ludwig. Musik: Georg Kranz. Mit Hanna Petkoff, Renate Reche, Sema Engin, Eva Blum, Michaela Hanser, Barbara Werz, Claudia Balko, Thomas Nicolai. Regie und Bühne: Michael Klette. Nächste Termine: 25. und 26.Juni, 19 Uhr 30.

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