„Wir müssen die Sache schwer überdenken“

Siziliens Votum zeigt die Konsequenzen aus dem Referendum zur Wahlrechtsreform/ Mafia und Sozialisten brauchen neue Strategie/ In Corleone, „dem“ Nest der „Ehrenwerten Gesellschaft“, fürchtet man internationale Konkurrenz  ■ Aus Corleone Werner Raith

„Mmboohh“, Don Tanu hebt die Schultern, breitet seine Arme halb aus: „Für Politik habe ich mich noch nie interessiert.“ Ehrerbietig nicken zwei Dutzend Köpfe zur Bestätigung. Das Wort „Politica“ spricht der Siebzigjährige, gelangweilt auf seinen Stock gestützt, mit einem besonders weichen P und einem tief eingerollten L aus, akzentuierter als sonst schon in Sizilien: bollediga; so bekommt das Wort einen besonders verabscheuungswürdigen Klang.

Das zustimmende Nicken der Männer um ihn herum steht freilich in deutlichem Gegensatz zur Tatsache, daß alle ihn kurz zuvor um seine Meinung zu den künftigen politischen Perspektiven nach der sizilianischen Wahl gefragt hatten. Eine Abstinenzerklärung, die auch recht merkwürdig wirkt, wenn man bedenkt, daß Leute seines Kalibers innerhalb der Clans nach Gerichtserkenntnissen über gut 600.000 Stimmen gebieten.

Daß die Insel-Christdemokraten drei Prozent — auf fast 43 Prozent — zugelegt haben, quittiert er mit einem Nicken, daß der unaufhaltsam scheinende Aufstieg der Sozialisten zum Stehen gekommen ist, mit einem Grunzton. Daß der ehemalige antimafiose Bürgermeister Orlando aus Palermo mit seiner neuen Formation „la Rete“ inselweit fast acht und sogar hier in Corleone fünf Prozent erhalten, Orlando in der Region über 100.000 persönliche Stimmen eingeheimst hat, bewegt Don Tanu nur zum Achselzucken. „Dobbiamo riflettere“, wir müssen darüber nachdenken.

Corleone, 12.000 Einwohner, 60Kilometer von Palermo entfernt, ist die bekannteste aller Mafia-Hochburgen: Der legendäre Dr. Navarra, eine Art Inselherrscher in den 50er Jahren, lebte ebenso hier wie der derzeitige Ober-Mafioso Liciano Liggio (Navarras Mörder), der aus dem Zuchthaus heraus die Clans reorganisiert und zu den mächtigsten Gruppen der internationalen Organisierten Kriminalität gemacht hat.

Was hier ausgekocht wird, realisieren morgen Clans in ganz Italien und auch außerhalb. Auch wenn die Notablen hier — vom Augenarzt Dr. Mangano, ehemals Bürgermeister, bis zum (aus Holland stammenden) Abt des Klosters San Salvatore hoch oben im Felsen des ehemaligen Gefängnisses — behaupten, daß die Mafia allenfalls noch folkloristisch-historische Präsenz hat. Tatsächlich aber wissen die Ermittler, daß sich der wichtigste Statthalter Liggios, Toto Riina, ein seit fünfzehn Jahren steckbrieflich gesuchter Mehrfachmörder, ziemlich ungestört hier aufhält.

Nun wollen die Herrscher hier also „nachdenken“. Zwar gibt das Wahlergebnis in seiner Substanz wenig Rätsel auf und wurde wohl auch so von den Bossen mit ihrem großen Stimmenreservoir gewollt. Die Trendumkehr, weg von den Sozialisten und wieder zurück zu den Christdemokraten, ist ein Denkzettel, den die Clans dem PSI-Vorsitzenden Bettino Craxi und Justizminister Claudio Martelli mit Genuß verpaßt haben — Rache für die ungeheure Blamage vom Sonntag zuvor, als die Sozialisten die Clans direkt in die schlimmste Niederlage seit Kriegsende verwickelten: den danebengegangenen Boykottaufruf des PSI gegen das Referendum zur — antimafiosen — Wahlrechtsänderung. Statt unter dem für die Gültigkeit notwendigen Quorum von 50 Prozent zu bleiben, stimmten die Italiener mit 95 Prozent Mehrheit für die Änderung. Daß selbst in hartgesottenen Mafia-Nestern mehr als die Hälfte der Wähler abstimmten und damit eine nun in aller Welt registrierte Schwäche der Clans demonstrierten, läßt dies weitreichende Konsequenzen fürchten.

Ausländische Syndikate könnten zum Beispiel Zweifel an der künftigen Durchsetzungskraft der Sizilianer und an der Weisheit ihrer politischen Allianzen bekommen und sich an andere Großorganisationen wenden. Die kriminellen Gruppen aus Marseille, 1974 von Interpol zerschlagen, haben sich längst reorganisiert und warten nur auf Fehler der Sizilianer. Die Türken, mehr noch die Jugoslawen und israelische Banden bieten ihre Dienste und ihre hochtechnologisierten Fähigkeiten seit Monaten immer lauter an.

Don Tanu wendet sich zu Don Vito, eine Art rechte Hand: „Socialisti? Craxi? Mmma.“ Der mit zusammengepreßten Lippen hervorgestoßene Laut sagt alles: Bis auf weiteres wünscht Don Tanu diese Namen hier nicht mehr zu hören. Die „Sicari“, Gefolgsleute, Handlanger, Bewunderer, im Circolo werfen sich bezeichnende Blicke zu. Calogero, dem ich meine kurzzeitige „Zulassung“ zum Hof des Don Tanu verdanke, stubst mich am Arm und weist mit den Augen zu Don Tanu: Haste kapiert?

Calogero ist seit unserer ersten Begegnung vor zwei Jahren während Fernsehaufnahmen offenbar in der Hierarchie aufgestiegen: Die Menschen in Corleone reden ihn mittlerweile auch mit dem respektvollen „Don“ an. Das Wahlergebnis in Gesamtsizilien ist für ihn „nur natürlich“: Man hatte den Sozialisten zugetraut, daß sie im Verein mit Staatspräsident Cossiga die Ummodelung Italiens in eine straff gelenkte Präsidialrepublik durchsetzen würden und hat dafür auch ziemlich viel Geld gespendet — in der Sicherheit, in einer weniger vom Parlament und der Öffentlichkeit kontrollierten Staatsform die immensen Kapitalien aus Untergrundgeschäften ungestörter anlegen und sogar in ein Stück direkte Machtbeteiligung verwandeln zu können. Nun aber ist das Projekt zum Stehen gekommen, Andreotti, der das gegenwärtige System beherrscht wie kein Zweiter, hat sich als der Schlauere erwiesen.

Ob die von den Mafiaclans nun angeordnete Stimmenneuverteilung ausreicht, den internationalen Partnern die Manövrierfähigkeit der Clans zu beweisen, ist noch unklar. „Wenn nicht“, sagt Don Calogero, „wird's eine Mattanza geben.“

Mattanza ist der Ausdruck für das blutige Thunfischfangen vor der Küste Siziliens. Seit einigen Jahren gilt es auch als Codewort für die mörderischen Kriege zwischen den Clans um die Neuverteilung der Macht.