: Meine geheimen Jugendgedichte
■ taz-Autoren und -Autorinnen öffnen ihre Schubladen — heute Folge 5: FNL-Seiten-Redakteur André Beck
Zur Erinnerung: Hans-Hermann Kotte besang »speisemais im fixsternmehl«, Katrin-Bettina Müller entrang dem Frühling »Leichtsinn und Melancholie, Mut und Einsamkeit«, André Meier ließ »Spatzen singen auf haßdurchströmten Drähten« und Ute Scheub beschwor »Dosen voll Utopien in Kellerräumen«. Auch heute soll sich wieder das früh- bis spätpubertäre Jugendgedicht mit seinen geheimsten Leidenschaften, Antriebsfedern und vielfältigsten Verzweiflungen wie ein warmer Regen niederschlagen. Denn, um es noch einmal zu sagen: Auch zu verlassenen Positionen bzw. auf halber Strecke verendeten Stilübungen muß man stehen, um Brüche und Verwerfungen kenntlich zu machen und gemeinsam verarbeiten zu können.
Heute setzen wir unsere Serie fort mit früher Poesie des FNL-Seiten-Redakteurs André Beck, geboren 1961 in Leipzig. Sie entstand in den Jahren 1982-86 in Moskau, wo Beck sich den Studien der sozialistischen Außenpolitik widmen durfte. Einige wenige Gedichte sind Nebenprodukte von Becks 'adn‘-Redakteurstätigkeit in der Außenstelle Magdeburg und dürften zwischen Harz und Havel ihren Ursprung haben. Mit der Wende, als Beck zur Ost- taz überwechselte, nach der »Vereinigung« mit der West-taz aktuelle Aufgaben und zuletzt die Redaktion der Fünf-Neue-Länder-Seiten übernahm, versiegte dem Vernehmen nach die Gedichtproduktion.
herbst unter den linden
in den alleen
torkeln
besoffene blätter
von bäumen in
den schlaf
friedrich hat
taubenkot
am stiefel
die alte lacht
yorkscher marsch
triumphiert außer
dem stechschritt
über fortbewegung
für momente
klatschen sohlen
auf asphalt
gen schinkelbau
der nachrichtensprecher
gratuliert
senil zum
feiertag
im herbst
mild games
irgend etwas
unruhestifter
zerbeulter blechkanister
yuo yuo yuo yuo heult die kiste
pflanzt mir deinen atem ins schädeldach
und jerichow ist ein scheißdreck:
wie du lungen blähst und bläst den dreck
das ist der ungehorsam dem ich zolle
und glieder zucken verrissene artigkeit
wotan lauert und grollt der alte donnergott
es ist in mir nackte durchsichtigkeit
unruhestifter du darfst
endlich
prosa im zweilicht
graue stunden
gedrückt
auf gepolsterten lederwülsten
schleicht endloszeit
an mein ohr
nicht ankommende rufe
schwingen ergebnislos
lastende erschlaffung
bleiert tagediebhaft
auf fortbewegung
gedanken kleben
suchen nach blau
Apfelblüten auf schwarzem Grund
schwarz und weiß der ast knospet
blüten recken sich in die nacht der
13. Etage das licht ist von der
trolleyhaltestelle zu sehen im
fenster über der straßenlaterne bricht
sich der halbmond zusammen mit
carry on and mercy erinnert es an
elegische studien
das betonmeer erschauert
vom krachen einer fehlzündung
ich halte ausschau nach den apfelblüten
in deinem fenster
there is a missing one
Mond süchtige nicht anrufen
diese Leitung ist gekappt
auf den Frequenzen pfeifen
ganz andere Vögel
Wir haben doch an alles gedacht
gut abgemischt im quadrosound
und handliche knöpfe zum regeln
bedienvorschriften in vier sprachen
antennen kratzen den himmel am bauch
zur grundausstattung gehören rollgurte
und porzellanschmelzkopfsicherungen
silberner penis schießt zum mond
mülltonnenreservoire für ratten liegen
im schatten der städtischen müllentsorgung
der betonsarkopharg wurde einzementiert
und zur wissenschaftlichen forschung freigegeben
wir denken an alle
Grace — Gnade?
die stunde ist leer
gefüllt mit paragraphen, neurosen und kaufwut
schlägt sich den magen voll derweil sich
im ducken satte bäuche in krämpfen winden
und verzehren letzte substanz gehirnschmalz
die windungen schmelzen im tiegel
klaffen
verseuchen ungewollt ganze landstriche
parfümiert mit geborgtem blut
bis dann
der letzte einfall und die große lust
zu schlappen lenden wird
Spätherbst
streunend über disteln und goldrute
bohre ich augen in den himmel
grabe heiße hände in feuchte erde
trete buckliges pflaster
sauge ahnung von trockenem heu
schmecke luft abgebrannter hänge
ächzende weiden trauern um sonne
schakende elstern schimpfen
letzte wärme entweicht ausgehobenen feldern
heisere raben künden nahenden winter
fröstelnd knöpfe ich den mantel
traurig schaukelt ginster
fili-feiertags
die 130 zur endstation
und wenige meter aus dem betonmeer
in ein waldstück gemischt rotbuche kiefer und eberesche
die moskauer begehen ihre feiertage
spielen domino auf grobgezimmerten holztischen
kinder turnen auf geschnitzten figuren der russischen
sagenwelt während mütter den atem anhalten.
die väter zechen heute bier mit gesalzenem speck
dürrfisch und kriwtkis
papier sowie asphalt haben den wald begehbar gemacht
vom hochufer sehe ich auf die flußschleife der moskwa
die stadteinwärts noch zum baden lohnt.
umvölkert sind spielautomaten
am 9. Mai herrscht trubel beim
u-boote-versenken-und-schlachtschiffe-beschießen
nur ein spiel
im nahegelegenen café
tanzt eine alte serviererin die — den besen
und lappen in der ecke — gelassen sich
mit bäuerlicher ausdauer begleitet
schlägt sie mit der flachen hand das leder
ihrer abgerissenen stiefel
das gesicht gefurcht und verzerrt
passanten teilen ihre geschichte
die sie allen wortlos mitteilt
mit gleichgültigem bedauern
der sieg unbezahlbar teuer für manchen
das moskauer eis will nicht schmecken
das zarte grün der birken sieht einem trockenen
sommer entgegen
BESTATTUNG
Sonntagmorgen
geweckt mißmutig
schlage ich die augen auf ins zimmer
durch ein von fliegendreck
winterschlacke schmutziges scheibenglas
hat sich tag gestohlen der
langsam zurück zum fenster wich
auf einem lichtkorridor wandelt das fadenkreuz
kippt
ein vorhang aus winzigen staubpartikeln und hautresten
weht hinterher
vermischt sich
mit musik die auf verbeulten blechblasinstrumenten
gespielt wird
schiebe die bettdecke beiseite
hieve mich heraus in
plastebadelatschen schlürfe zum fenster
um zu sehen.
aus dem benachbarten haus geradewegs
auf das internat zu bewegt sich eine
prozession
die zittrige melodie wird vom
wehklagen der frauen begleitet
die sich in ihre tücher krümmen
männer scharren mit schmutzigen schuhspitzen
im straßensand; schweigen
der kirchdiener verspritzt
weihwasser und erteilt die
heiligen sakramente
man bedeckt den mit blumen geschmückten
sarg.
zur letzten reise
wird er in einen blaugrauen bus geschoben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen