Ein Wetter just zum Abschied nehmen

■ Kalt und naß und grau morgen ist Sonnenwende und kein Sommer noch in Sicht. Die Kirschen sind erfroren, den Tieren im Zoo ist es aufs Gemüt geschlagen, und auch die Menschen haben mit...

Ein Wetter just zum Abschied nehmen Kalt und naß und grau — morgen ist Sonnenwende und kein Sommer noch in Sicht. Die Kirschen sind erfroren, den Tieren im Zoo ist es aufs Gemüt geschlagen, und auch die Menschen haben mit Stimmungseinbrüchen zu kämpfen. Was ist los mit dem deutschen Sommer? Ob nicht doch die Dreckwolken aus Kuwait oder der Vulkanstaub des Pinatubo ...?

„Die Sonnen also scheinen uns nicht mehr, fortan muß eignes Feuer uns erleuchten“ (Schiller, Piccolomini)

„Ich möchte erwachen bei Sonnenschein, und es müßte alles wie früher sein“ (Otto Reutter)

„Wenn die Sonne scheint sehr bleich,

ist die Luft an Regen reich“

(Ignaz Kiechle)

Auf dem Säntis fiel am Dienstag etwas mehr als ein halber Meter Neuschnee, für das Furkajoch und den Hochtannberg sind Schneeketten vorgeschrieben, die Silvretta-Hochalpenstraße und das Timmelsjoch bleiben vollständig gesperrt. Die durchschnittliche Juni-Temperatur für Norddeutschland beträgt bisher 12,8 Grad, öffentliche Gebäude werden beheizt. Keine Frage: Der Sommer steht vor der Türe, aber keiner sieht ihn. Depressionsforscher sehen statt dessen schwere Stimmungseinbrüche selbst bei notorischen Frohnaturen und empfehlen Lichttherapie für Wettergeschädigte.

In Berlin war es zuletzt am 2. Juni 1977 mit plus 0,8 Grad ähnlich kalt wie in diesem Jahr, sagt der FU-Metereologe vom Dienst, Jürgen Heise. Aber selbst damals sei es irgendwann auch mal wieder warm geworden, während jetzt eine „doch schon länger anhaltende Kühle“ zu verzeichnen sei, „der Wechsel fehlt“. Kommt nach dem kältesten Mai des Jahrhunderts jetzt der kälteste Sommer? Für die Metereologen fängt der Sommer bekanntlich bereits am 1. Juni an. Einen Tag später, in der Nacht zum 2. Juni, war das Thermometer in Berlin auf 2,4 Grad gefallen — und kam bis heute nicht mehr richtig hoch. „Die Hauptmisere ist die ständige Luft von Nord-West“, analysiert Herr Heise. Herangeführt wird sie von „Afra“, einem Tiefdruckgebiet, das nach Skandinavien zieht. Zuvor war ein Hoch über den britischen Inseln für Kälte und Regen verantwortlich. Es gab also „ganz verschiedene Wettertypen“, aber immer dasselbe Wetter: kalt und naß und grau.

„Besonders im Vogelbereich“, sagt Herr Reinhard vom Zoologischen Garten Berlin, „kommen viele nicht in die richtige Stimmung.“ Das Wetter drückt auf die Libido. Die kubanischen Flamingos zum Beispiel: Schon in der warmen Märzsonne wurde heftig geflirtet und geschnäbelt, bald wurde verliebt an den ersten Schlammhügeln für die Eiablage gebaut. Und jetzt? Kein Feuer, kein Sex, kein Nachwuchs: „Da ist keine echte Reproduktionsaktivität“, erkennt der Fachmann, „da passiert nix.“ Bei Enten und Gänsen dasselbe Lied: keine Eier, keine Küken, „da fehlt einfach was“. Und nicht nur in Berlin. „Die jammern alle“, berichtet der Zoologe über seine Kontakte mit den Kollegen aus deutschen Landen. Leere Nester überall.

Dann wird sich ja wenigstens der antarktische Königspinguin amüsieren? Nicht einmal der: Pinguine brauchen trockene Kälte, um sich wohlzufühlen, und außerdem sitzen sie wegen der schlechten Berliner Luft ohnehin in der vollklimatisierten Kältekammer. Und die Eisbären? „Auch die legen sich gerne in die Sonne.“ Aber für irgendein Tier muß doch auch diese feuchte Kälte geschaffen sein. „Nein, sowas gibt's nicht“, beharrt Herr Reinhard, „das wäre ein annormales Tier.“

„Kein Rechtsanspruch auf Sonnenschein“

Bei soviel tristem Grau in Grau fragt die 'deutsche Presseagentur‘ schon mal den Psychologen. Aber der flüchtet sich in typische Rationalisierungen. Es gebe „keinen Rechtsanspruch auf Sonnenschein“, meint der thüringische Analytiker Rainer Gunkel aus Suhl, und außerdem seien im vergangenen Jahrzehnt die sieben wärmsten Sommer des Jahrhunderts registriert worden, kein Grund zur Klage also. Schließlich: Regen sei aus ökologischer Sicht genauso notwendig wie Sonnenschein. Aber warum gleich so viel? Binnen 24 Stunden fiel im Allgäu am Montag mit 66 Millimetern soviel Regen wie sonst im ganzen Monat. In Basel mußte die Rheinschiffahrt nach schweren Niederschlägen gesperrt werden.

Allgäu hin, Basel her, Gunkel geht das ganze Gejammer „auf den Docht“. Zugleich will er aber politische Gründe für den schlimmen deutschen Sommer nicht ganz ausschließen: Angesichts der unsicheren Verhältnisse im Osten und allgemeiner Krisenstimmung „setzt Petrus mit dem Wetter jetzt noch eins drauf“. Dennoch warnt Gunkel vor Suggestion und Autosuggestion — Fazit: Wir dürfen uns die Depression nicht einreden, nur weil es ab 2.000 Meter Höhe ein wenig schneit.

Schluß also mit der miesen Stimmung, verwöhnen wir uns mit einem Blumenstrauß! „Nein“, sagt die Gärtnermeisterin aus Berlin-Halensee, „die Rosen haben Läuse — vom Wetter geschwächt.“ Auch der Sternrußtau richte bei der feuchten Kälte schwere Schäden an. Da hilft keine Schachtelhalmbrühe und kein Schwefelsud, „die kannste dann wegschmeißen“. Und sonst? Selbst die vielbesungene „sweet, sweet Bougainvillea“ blühe stumpf und dunkel, überall wuchere der Grauschimmel, und auch der Rittersporn leide, die Stauden seien in Gänze außer Form. Beim Obst hat schon der Frühjahrsfrost dafür gesorgt, daß von des Kanzlers „blühenden Landschaften“ nichts übriggeblieben ist. Jetzt, wo eigentlich die ersten Süßkirschen geerntet werden, lohnt es oft nicht, die Leiter an den Baum zu stellen.

Aber halt! Bitte jetzt nicht gleich aus dem Fenster springen. Wir spenden Trost: Die Ozonbelastung in den deutschen Städten, Dauerplage in heißen Sommern, ist extrem gering, und auch die allergene Belastung durch Gräserpollen liegt im untersten Bereich. Selbst der befürchtete Meeresspiegelanstieg durch schmelzende Polkappen könnte ein wenig abgemildert sein. Und: Am Wochenende greift ein Azoren-Hoch auf Deutschland über. Zumindest auf Süddeutschland. Und die im Norden? Die haben schon jetzt einen weiteren deutschen Rekord aufgestellt. Der kälteste Juni seit 68 Jahren. Herzlichen Glückwunsch! Manfred Kriener