: Bonn oder Berlin: Ringen bis zuletzt
Zeitschiene heißt das Zauberwort vor der Abstimmung über den künftigen Regierungssitz/ Bonn-Befürworter sind zur Entscheidung auf Raten bereit/ Antrag auf Volksentscheid vom Tisch ■ Aus Bonn Gerd Nowakowski
Trotz fieberhafter Bemühungen um eine einvernehmliche Lösung in letzter Minute ist eine Kampfabstimmung über den künftigen Parlaments- und Regierungssitz kaum noch zu vermeiden. Eine Vorentscheidung über den Umzug von Bundespräsident und Bundesrat an die Spree ist unterdessen schon gefallen, da alle erwarteten Anträge diese Verlagerung vorsehen. Der Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei, Wolfgang Clement, bestätigte, daß die „reine Bonn-Lösung“ vom Tisch sei. Das von den Bonn-Befürwortern vorgelegte „bundesstaatliche Modell“ sieht den Umzug von Bundespräsident und Länderkammer nach Berlin sowie zweite Amtssitze für den Kanzler und andere Regierungsmitglieder vor. Das vom stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Union, Heiner Geißler, erarbeitete Modell hat den Umzug des Bundestags und Bundesrats sowie des Bundespräsidenten an die Spree zum Inhalt. Die Regierung soll danach in Bonn bleiben. Clement (SPD) meinte weiter, das Parlament solle Bundespräsident und Bundesrat bitten, nach Berlin umzuziehen. Über den endgültigen Sitz von Bundestag und Bundesregierung solle aber später entschieden sein. Ein solcher Gedanke wird in Bonn als „Zeitschienen-Modell“ gehandelt. Auch Bundeskanzler Kohl und Innenminister Schäuble machten sich für dieses Verfahren stark. Der Berliner Regierende Bürgermeister Diepgen (CDU) stellte seinerseits klar, daß die Berliner auf einen Umzug des Parlaments und von „Kernbereichen“ der Bundesregierung bestehen. In Bonn soll der Verwaltungsbereich verbleiben. Einen „Etikettenschwindel“ in der Hauptstadtfrage dürfe es nicht geben, sagte er. Die Linie müsse klar sein. Verschiebungen in spätere Legislaturperioden „dienen uns überhaupt nicht“. Gestern nachmittag traf Diepgen mit Bundeskanzler Kohl zusammen. Unklar war bis Redaktionsschluß, wieviel Anträge heute zur Abstimmung vorliegen und wie abgestimmt wird. Gestern tagten die Fraktionen, bevor sich am Abend der Ältestenrat auf das Debattenprocedere und Verfahrensfragen der Abstimmung verständigen wollte. Die Vorschläge des Ältestenrates wollte die SPD-Fraktion dann noch einmal besprechen, bevor der Ältestenrat entgültig entscheiden sollte. Auch die Bemühungen, eine Kampfabstimmung zu vermeiden sollten fortgesetzt werden. Er erwarte, daß die Nacht zu heute „durchgetagt“ wird, erklärte ein Vertreter der Bonn-Befürworter. Weil eine „befriedigende Kompromißlösung nicht in Sicht“ ist, soll nach Meinung der bayerischen Landesregierung das Parlament heute nur über die diversen Modelle diskutieren und sie dann einer gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat zur weiteren Bearbeitung überweisen.
Zugleich hat der Bundesratspräsident Voscherau (SPD) sich verärgert geäußert, daß die Vertreter der verschiedenen Modelle sich anmaßten, über den Sitz des Bundesrates zu entscheiden. Dies werde das Gremium selber tun. Gescheitert ist die Gesetzesinitiative der SPD, nach dem heutigen Votum der Parlamentarier die Frage des Regierungssitzes endgültig durch eine Volksabstimmung zu klären.
Für die Union begründete der CSU-Abgeordnete Geis die Ablehnung, ein Volksentscheid führe nicht zu einer gesellschaftlichen Befriedung, sondern schaffe einen „breiten Raum für Demagogie und Verhetzung“. Kein westliches Land habe gute Erfahrungen mit Volksentscheidungen gemacht, er bezweifle, daß das Volk sachgerechte Entscheidungen treffen könne. Er warf der SPD vor, den Volksentscheid zum Regierungssitz nur als Vehikel zu benutzen, um weitgehende Verfassungsänderungen zu erreichen.
Für die SPD hatte die Abgeordnete Däubler-Gmelin betont, der Volksentscheid sei „notwendig und hilfreich“ und eine bessere Lösung angesichts der umstrittenen Kompromißlösungen, die teilweise Ausdruck „purer Ratlosigkeit“ seien. Eine Ablehnung sei „Arroganz der Mächtigen“, trage zur Politikverdrossenheit bei und dokumentiere Angst und Mißtrauen der Politiker gegenüber dem Staatsbürger.
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