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Am Millerntor war Totentanz

Bundesliga-Relegation (Hinspiel): FC St. Pauli — Stuttgarter Kickers 1:1/ Das Ausgleichstor des Stuttgarters Marin brachte in der 89. Minute sogar St. Paulis zwölften Mann zum Schweigen  ■ Von Katrin Weber-Klüver

Hamburg (taz) — In der 89. Minute verstummte der Millerntor-Roar. Irgendwie stand alles still. Bruchteile von Sekunden, bis drei die Arme hochreißende Männer in Trainingsanzügen den Platz stürmten. Stuttgarter im Freudentaumel. Die paar Dutzend Schwaben auf der Südtribüne des Wilhelm-Koch-Stadions hatten plötzlich leichtes Spiel, 20.000 wehrlosen Hamburgern ein Lied zu singen von den Kickers und davon, daß die nie mehr in der Zweiten Liga spielen würden.

„Psychologisch war das ein schlechter Moment“, erkannte hernach Horst Wohlers, Trainer des FC St. Pauli, und meinte, eben diese 89. Minute, als Stuttgarts Goalgetter Marcus Marin, der bis vor einem Jahr Bankdrücker beim Hamburger SV gewesen war, seinem ermatteten Bewacher André Trulsen und dem nicht minder erschöpften Libero Bernhard Olck davonrannte, um einen wild aus dem Kasten stürmenden Volker Ippig gelassen zu überlupfen. 1:1 am Millerntor im ersten Relegationsspiel um den letzten freien Erstligaplatz. Ende der Paaddie im „Freudenhaus der Liga“?

Sie hatten wieder einmal alles gegeben, die Kicker vom Kiez, ihre Anhängerschaft sowieso. Ein 20.000 Seelen vereinender „zwölfter Mann“ verpfiff die Kickers aus dem Schwabenland gnadenlos von der ersten bis zur 89. Minute, brüllte die Paulianer zum Sturm und hoffte auf ein Wunder. Vergebens.

Das Nervenflattern war den Männern auf dem Rasen noch vom letzten Winkel des Stadions aus anzusehen, auch daß die Hamburger Elf, die seit Wochen nur eine Notbesetzung ist, mit ihrer Kraft schon beim Anpfiff relativ am Ende war. Nur notorische Nörgler auf der Haupttribüne verziehen die zahllosen Fehlpässe und Ballverluste der Paulianer nicht, schimpften über das Gedümpel, drohten bereits nach einer Viertelstunde „Kick'n Rush“ das Stadion zu verlassen und verkannten, daß es kaum je Relegationsspiele gegeben hat, denen spielerisch Hochklassigkeit zu bescheinigen gewesen wäre.

Gehen tat natürlich keiner. Und so sahen sie alle in der 31. Minute, wie ein Fernschuß von André Golke immer länger wurde, um wunderschön im oberen Netzeck hinter Stefan Brasas einzuschlagen. Eine einsame Einzelleistung, ein glückliches Tor. Das Stadion bebte. Und hoffte: „Jetzt geht's los!“ Auch Wohlers gestand, er sei nach diesem Tor „sicher gewesen, daß wir gewinnen“.

Sein Stuttgarter Pendant Rainer Zobel freilich gab später nachgerade provozierend fröhlich zu Protokoll, er habe zwar gewußt, „daß wir auf eine kampfstarke Mannschaft treffen werden“, doch auch, „daß St. Pauli das nicht neunzig Minuten durchhalten würde“. Womit er sehr Recht hatte. St. Paulis tapferster Kämpfer für den Klassenerhalt, Bernd Hollerbach, der offensive Mittelfeldmann aus der Bayernliga, war schon nach einer Halbzeit mit seiner Kraft am Ende, hatte links und rechts und in der Mitte wie unter Speed versucht, ein Angriffsspiel aufzuziehen. Vergebens.

Vergebens auch in der zweiten Halbzeit das Anrennen auf das Stuttgarter Tor. Schließlich noch von Unvermögen, gnädiger gesagt, von Pech begleitet: Dirk Zander köpfte gleich in Serie am Stuttgarter Kasten vorbei, Golke verpaßte die Kopie des 1:0, in diversen Strafraumgewuseln überboten sich die Paulianer im Vertun 98prozentiger Chancen.

Und die Kickers taten, was sie am besten können: sie konterten. Spielerisch ohnehin besser, mit Matthias Imhoff auf dem linken Flügel, Marcus Marin und Ralf Vollmer in der Mitte und Dirk Fengler auf der rechten Seite, vor allem aber schneller als die Hamburger, deren Abwehr ohne den verletzten Libero Kocian Freestyle spielte, waren die Stuttgarter bis kurz vor dem Ende stets an chronischer Abschlußschwäche gescheitert. Dann gab Marin in der 82. Minute mit einem Pfostenschuß die Vorwarnung zu dem, was sieben Minuten später passierte.

Er habe, sagte anschließend der stets zum Pragmatismus neigende Horst Wohlers, „fünf Minuten gebraucht, die Enttäuschung wegzustecken“. Drei Tage hat er Zeit, die Seinen wieder aufzubauen, um am Sonntag im Stuttgarter Neckarstadion „den Kickers einen heißen Tanz zu liefern“. Mit seinem Optimismus war er am Mittwoch recht allein: Am Millerntor war Totentanz.

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