: Große Worte, kleine Schritte
■ Der sowjetische Außenminister warnt vor einem Rückfall ins 19.Jahrhundert, wenn "KSZE der Nato untergeordnet wird". EG-Kommissar Andriessen fordert "mehr Investitionen und Verstärkung des Handels statt...
Große Worte, kleine Schritte Der sowjetische Außenminister warnt vor einem Rückfall ins 19.Jahrhundert, wenn „KSZE der Nato untergeordnet wird“. EG-Kommissar Andriessen fordert „mehr Investitionen und Verstärkung des Handels statt Hilfszahlungen für Osteuropa“. Beim Kompromiß um eine KSZE-Krisenbewältigung bleiben Streitfragen.
Umfassende, konkrete wirtschaftliche Maßnahmen der westlichen Staaten zur Unterstützung der osteuropäischen Reformländer sind heute notwendiger denn je. Das gilt besonders für die Sowjetunion. Wenn diese Unterstützung jetzt nicht erfolgt, könnten sich alle bisherigen Maßnahmn als vergeblich erweisen.“
Am Rande der KSZE-Außenministerkonferenz fand einer deutliche Worte, der nur als Gast im Berliner Reichstag weilte: Frans Andriessen, stellvertretender Präsident der EG- Kommission, zählte vor Journalisten auf, was die in Korb zwei der KSZE- Akte von Helsinki vereinbarte „wirtschaftliche Kooperation“ jetzt erfordert. „Mehr Handel und öffentliche wie private Investitionen mit und in den osteuropäischen Reformstaaten statt Hilfszahlungen.“ Nur so ließen sich die strukturellen Voraussetzungen herstellen, um diese Staaten mittelfristig wirtschaftlich auf die eigenen Füße zu stellen. Andriessen plädierte für „trilaterale Abkommen“, zur Veränderung bisher üblicher Kreditbedingungen, nach denen die osteuropäischen Empfängerländer mit dem erhaltenen Geld in den jeweiligen westlichen Geberländer einkaufen müssen. Es sei viel sinnvoller, etwa bei einer niederländischen Kreditvergabe an die UdSSR zugleich zu vereinbaren, daß Moskau mit diesen Krediten bestimmte Waren in der CSFR kauft, die dort „zum Teil im Überfluß vorhanden sind und in der UdSSR gebraucht werden“, erklärte der EG-Kommissar. Andriessen scheute auch nicht zurück vor deutlicher kritik am eigenen Lager. Es sei derzeit „immer schwerer“, von den zwölf EG-Regierungen Zusagen zu erhalten für die notwendigen Maßnahmen. Noch kritischer äußerte sich Andriessen über das „unbefriedigende Burden- Sharing“ mit den USA bei der wirtschaftlichen Unterstützung Osteuropas. Zum kürzlich beschlossenen Entschuldungsprogramm für Rumänien in Höhe von einer Milliarde Mark steuere Washington keinen Pfennig bei, zu einem ähnlichen Programm für Bulgarien nur „sehr wenig“.
Rechtzeitige und umfassende ökonomische Unterstützung trage zur Stabilisierung der osteuropäischen Länder, zur Krisenvermeidung und damit zur Sicherheit in ganz Europa bei, beschrieb Andriessen den „engen, ursächlichen Zusammenhang“ zwischen den Körben zwei und drei der Helsinki-Akte.
Doch die Außenminister „erörterten“ (Genscher) das wirtschaftliche Gefälle in Europa lediglich am Rande. Beschlossen wurde hierzu „nichts“ (Hurd, Großbritannien). Stattdessen stritten sich die Außenminister sich ausführlich über einen Mechanismus zur Krisenbewältigung und erzielten am Ende doch nur einen Kompromiß, der das Problem vertagt. Zwar rückte die Sowjetunion von ihrer Ursprungsforderung ab, wonach das neue, aus den politischen Direktoren der Außenministerien gebildete KSZE-Krisengremium nur zusammentreten kann, wenn alle 35 Mitgliedsstaaten dies verlangen. Und auch die Türkei gab ihre anfängliche — mit Blick auf den Zypern-Konflikt eingenommene — Forderung auf, daß sich das KSZE- Gremium nur mit Themen befassen dürfe, die nicht bereits vom UNO-Sicherheitsrat behandelt werden.
In dem vereinbarten Kompromiß ist nun die Zahl von mindestens zwölf Staaten festgelegt, auf deren Begehren hin das Gremium einberufen werden muß. Doch in der Präambel dieser insgesamt 14 Artikel umfassenden Regelung ist festgelegt, daß die Anwendung des ganzen Mechanismus nur unter Beachtung „des Prinzips der Nichteinmischung in interne Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten“ erfolgen darf. Damit wird künftig vor allem darüber gestritten, ob es sich bei einem Konflikt um die „interne Angelegenheit“ eines Staates handelt. Westliche Konferenzteilnehmer bewerteten dieses Ergebnis dennoch als relativen Erfolg, da mit der gefundenen Regelung der öffentliche Erklärungsdruck auf Staaten, die eine Einberufung des Konfliktgremiums verhindern wollen, größer sei als bei dem ursprünglich verlangten Verfahren. Konflikte, die aus nicht näher definierten „unüblichen militärischen Aktivitäten“ einzelner KSZE- Mitgliedsstaaten entstehen, sind jedoch ausdrücklich von der Zuständigkeit des neugebildten Konfliktgremiums ausgenommen. Außerdem haben seine Entscheidungen nur Empfehlungscharakter an die 35 Regierungen.
Dem Konfliktgremium aus den politischen Direktoren des Außenministeriums vorgeschaltet ist ein zweiter Mechanismus, der in Berlin beschlossen wurde. Er weist dem beim Pariser Gipfel im November 1990 beschlossenen Wiener Konfliktverhütungszentrum eine erste konkrete Kompetenz zu. Danach soll bei Meinungsverschiedenheiten, die die beteiligten Staaten nicht selbst beilegen können, ein „Streitschlichtungsgremium“ aus „kompententen Persönlichkeiten“ unbeteiligter Staaten eingesetzt werden. Für die Zusammensetzung dieses Gremiums wurde ein kompliziertes Einigungsverfahren vereinbart. Das Ergebnis seiner Beratungen verpflichtet die betroffenen Staaten aber lediglich, „nach Treu und Glauben und im Geiste der Zusammenarbeit alle Hinweise oder Ratschläge“ zu prüfen. Die politischen Direktoren der 35 Außenministerien sollen bis zum nächsten Außenministertreffen Ende Januar in Prag Empfehlungen zur künftigen Weiterentwicklung der KSZE-Institutionen- und Strukturen vorbereiten.
In einem Redebeitrag zum Thema Sicherheitspolitik, der der taz vorliegt, wandte sich der sowjetische Außenminister Bessmertnych gegen eine Entwicklung, „bei der der gesamteuropäische Prozess den Zielen der Nato oder anderer westeuropäischer politischer, wirtschaftlicher oder militärischer Strukturen untergeordnet wird“. Bessmertnych warnte „vor einer Situation, in der sich die Sicherheitsbedingungen in einem Teil Europas krass von der Lage im anderen Teil unterscheiden“. Die europäische Sicherheit und Stabilität setze „tiefe Wandlungen aller Organisationen und den Übergang zu Strukturen voraus, die den ganzen Kontinent umfassen“, erklärte der Außenminister. Komme es hingegen in Europa zu einer „Differenzierung in Zonen mit unterschiedlichem Status“, beginne „ein Wirken gegeneinander, ein Rückfall ins politische Klischee vom Ende des 19. und Beginn des 20.Jahrhunderts“. Bessmertnych wiederholte den bereits beim Pariser KSZE-Gipfel vorgelegten sowjetischen Vorschlag für die Bildung eines gesamteuropäischen Sicherheitsrates. Der Helsinki-Prozeß müsse langfristig in einen „allumfassenden Vertrag über die europäische Sicherheit münden“. Der sowjetische Außenminister sprach sich für ein baldiges neues Mandat für Abrüstungsverhandlungen in Europa, für die Erweiterung des Teilnehmerkreises von bisher 22 auf alle 35 KSZE-Staaten sowie für eine Ausdehnung der Verhandlungen auf Seestreitkräfte aus. Wegen Bedenken in den meisten der 16 Nato-Staaten konnte sich die Außenministerkonferenz jedoch nur auf den Beginn informeller Vorgespräche über ein solches Mandat ab Herbst dieses Jahres verständigen. Formelle Mandatsverhandlungen sollen frühestens nach dem nächsten KSZE-Gipfel 1992 in Helsinki erfolgen. Mitglieder verschiedener westlicher Delegationen bestätigten, daß nach Abschluß des ersten Abkommens zur konventionellen Abrüstung (VKSE) innerhalb der Nato derzeit mehrheitlich keine Bereitschaft zu neuen Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen besteht. Dies gilt auch für West-Ost-Verhandlungen über den Abbau von atomaren Kurzstreckenwaffen in Europa, die nach früheren Verlautbarungen in diesem Jahr beginnen sollten. Bezüglich der Einschränkung oder zumindest Kontrolle von Waffenexporten verzichtete der KSZE-Aussenministerrat auf eigene Maßnahmen und sprach sich lediglich für „größere Transparenz“ aus. Andreas Zumach, Berlin
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