Kastrierte Schafe verdecken Algiers Probleme

Kastrierte, schwanzlose Schafe aus Australien beschäftigen Algeriens Politiker mehr als der Ausnahmezustand und die verschobene Wahl/ Islamische Heilsfront (FIS) und Nationale Befreiungsfront (FLN) bekämpfen sich mit Opfertieren  ■ Aus Algier Franz Reppert

Wenn die Vorortbewohner Algeriens Schafe durch die Straßen treiben, wenn in den Zeitungen der Hauptstadt von Fleischpreisen die Rede ist und wenn der alte Araber, der frühmorgens vor dem Hotel auf und ab spaziert, zu blöken beginnt wie ein Lamm — dann ist die Zeit des A'id. Das A'id, eines der wichtigsten Feste des Islam, leitet sich aus der Legende von Abraham ab, der auf Gottes Geheiß seinen Sohn Ismael verbrennen sollte und für seine Folgsamkeit belohnt wurde, indem in letzter Minute der Engel Gabriel Ismaels Platz auf dem Feuer einnahm. Als Nachempfindung dieser göttlichen Prüfung wird jedes Jahr zum A'id ein Schaf geschlachtet.

Dieses Jahr fällt das Fest auf den 22.Juni, einen Samstag, und weil das Festmahl bis spät in die Nacht andauert, ist auch der Sonntag arbeitsfrei. Freitags ist ohnehin Ruhetag, und da Algerien am Mittwoch einen Nationalfeiertag zum Gedenken an den Militärputsch von 1965 beging, nutzen viele Bewohner Algiers die Gelegenheit, um vier oder fünf Tage aufs Land zu fahren. Die Inlandsflüge sind restlos ausgebucht, Busse und Taxis haben Hochbetrieb: Ein Großteil der Bevölkerung Algiers besteht aus Zuwanderern, und das A'id ist ein Familienfest, eine Zeit des Wiedersehens. Nach den gewalttätigen Wochen, die Algier hinter sich hat, ist dies ein erster Hauch von Normalität. Und zum Wochenende haben die Militärbehörden die nächtliche Ausgangssperre für drei Tage ausgesetzt.

Die Krise Algeriens ist jedoch auch am A'id nicht spurlos vorbeigegangen. Seitdem die Regierung des Ex-Premierministers Hamrouche vergangenes Jahr begann, die Preise für landwirtschaftliche Produkte freizugeben, ist das A'id ein Luxus. Vor einem Jahr kostete ein algerisches Schaf 2.000 bis 3.000 Dinar, mehr als einen halben Monatslohn. Dieses Jahr müssen die Algerier sogar 6.000 bis 8.000 Dinar für ein einheimisches Opferschaf hinblättern — und auch die Preise für andere Lebensmittel sind in schwindelerregende Höhen geklettert.

Das A'id unbezahlbar — und das so kurz vor dem 27.Juni, dem ursprünglichen Termin der jetzt verschobenen Parlamentswahlen? Um diesem sicheren Wahlkampfbumerang zu entgehen, besann sich die Regierung frühzeitig auf Gegenmaßnahmen in Form eines Wahlgeschenkes. 220.000 Billigschafe aus Australien ließ das Handelsministerium importieren. Zum Stückpreis von etwa 3.000 Dinar sollten sie kurz vor dem A'id unter das Volk kommen und der seit der Unabhängigkeit regierenden FLN zum Wahlsieg verhelfen.

Mit diesem Kalkül folgte die FLN-Regierung einer Idee ihres ärgsten Rivalen, der Islamischen Heilsfront (FIS). Denn im Fastenmonat Ramadan im Frühjahr, wenn in Erwartung nächtlicher Festessen die Preise für Lebensmittel kräftig steigen, hatte die FIS sogenannte „islamische Märkte“ eingerichtet, auf denen sie Waren zu subventionierten Sonderpeisen anbot. Auch zum A'id blieb die FIS nicht untätig. Einige Wochen vor der geplanten Ankunft der Schafe aus Australien erklärten Religionsgelehrte, die fremden Tiere seien unrein und für das Opferfest nicht zu gebrauchen. Gemäß dem Islam hätten Opferschafe gesund und unversehrt zu sein, die Importtiere seien aber kastriert und gar schwanzlos! Tatsächlich wird australischen Schafen im allgemeinen der Schwanz gestutzt, um Infektionen zu vermeiden. Die FIS erklärte den staunenden Gläubigen, die FLN- Regierung zwinge das Volk zu einer unislamischen Lebensweise, indem sie algerische Schafe verteuere und dann „unreine“ Alternativen anbiete. Und aus dem Ruf: „Australische Schafe sind unrein!“ wurde, als die Armee bewaffnete Islamisten mit Tränengas durch die Straßen trieb, der Slogan: „Kauft nicht bei der FLN!“

Die regierungsnahen Medien konterten die Schafkampagne der FIS mit großangelegten Rechtfertigungen. Der Durchschnittsalgerier, so erklärten sie, würde überhaupt erst durch das Angebot billiger Schafe in die Lage versetzt, das A'id traditionsgemäß zu feiern. Außerdem habe der islamische Rat von Westaustralien die Brauchbarkeit der Schafe für Opferzwecke bestätigt. Im übrigen würden die in Australien verbreiteten Zuchtschafe der Rasse „Merinos“ ursprünglich aus dem Maghreb stammen. Ganz Algerien setzte sich nun mit der Frage auseinander, ob die A'id-Schafe Schwänze haben müßten oder nicht. Ein Religionsgelehrter verwies auf die kurze Wolle der Importtiere und meinte, Australiens Schafe seien vielleicht in Wirklichkeit Schweine — oder zumindest Produkt einer in Spanien vorgenommenen Kreuzung aus Schweinen und maghrebinischen Schafen. Es kam sogar die Vermutung auf, im dekadenten Australien würden Schafe mit Alkohol gefüttert.

Der immer absurdere Schafkrieg war für beide Seiten auch ein willkommenes Ablenkungsmanöver. Denn die Sorgen der Algerier im Vorfeld des A'id drehen sich weniger um hohe Schafpreise als um die Probleme, die die Krise der letzten Wochen mit sich brachte: ausstehende Gehälter, unbezahlte Renten, Entlassungen im öffentlichen Dienst, gegenseitige Blockaden von FLN- und FIS-Behörden. Viele Rentner haben ihre Pensionen für Juni noch nicht ausbezahlt bekommen — die Regierung macht dafür den Aufruf zum Generalstreik der Islamisten vom Mai verantwortlich und verkündet medienwirksam eine rückwirkende Rentenerhöhung. Die FIS schwingt sich im Gegenzug zum Anwalt derjenigen Arbeiter und Angestellten auf, die den Generalstreikaufruf befolgten und dadurch ihre Arbeitsplätze verloren. Nach Angaben der „Islamischen Gewerkschaft“ (SIT) sollen das über 12.000 Algerier sein. Die Manager der kommunalen Dienstleistungsbetriebe erklärten dieser Tage, viele Beschäftigte des öffentlichen Dienstes hätten seit drei Monaten kein Geld mehr bekommen.

Das Ministerium für religiöse Angelegenheiten versuchte im Hinblick auf diese Situation, den Schafstreit salomonisch zu lösen und erklärte, die Opferung der australischen Schafe sei je nach theologischer Strömung, der der Gläubige angehöre, erlaubt oder nicht. Da die meisten Algerier sich einfach als sunnitische Muslime verstehen und Sondergruppen wie die traditionalistischen Wahhabiten im Mzab nur eine kleine Minderheit ausmachen, bleibt die Entscheidung somit dem Einzelnen überlassen.

Letztendlich haben die meisten Algerier ohnehin keine Wahl. Offiziell werden die Importtiere in Supermärkten und Großverkaufsstellen der wichtigeren Hafenstädte angeboten. Etliche Tiere werden aber vorher von den weitläufigen Kanälen der algerischen Vetternwirtschaft verschluckt. „Es ist immer dasselbe“, sagt ein junger Mann im Café neben einem Fleischerladen. „Wir werden von Dieben regiert.“