piwik no script img

Ein Leben voller Abenteuer

Jean Vautrins Krimi „Haarscharf am Leben“  ■ Von Günther Grosser

Manche Leute schreiben ihre Lebensgeschichte auf, weil sie sowieso ihr ganzes Leben damit zubringen, über weißes Papier gebeugt Geschichten auszubrüten. Das sind die Schriftsteller, und ihre Lebensgeschichten heißen Autobiographien. Die guten sind von Nabokov, Eric Ambler, Gottfried Benn. Von den schlechten reden wir nicht.

Andere Leute sondern Biographisches ab, weil sie ewig unter Scheinwerfern rumstehen müssen und sich am Zeitungskiosk dauernd selber begegnen, so daß sie eines Tages die Angst packt, wir könnten ein völlig falsches Bild von ihnen bekommen. (Tun wir auch.) Das sind die Filmleute, Musiker und Sportler. Ihre Lebensgeschichten heißen Memoiren. Die gute ist von Luis Bunuel. (Hat da hinten jemand „Andy Warhol“ gerufen? Na gut.)

Wieder andere wenden sich der Niederschrift ihrer Vita zu, weil sie das ganze Leben lang für uns gerackert haben und wir das einfach nicht zu schätzen wissen. Das sind die Politiker, und ihre Lebensgeschichten heißen Erinnerungen. Die lesen wir nicht, das tun nur ihre Kollegen.

Was aber sollen wir von einem halten, der 15 Jahre lang Filmregisseur war, eine Handvoll kruder Gangsterfilme mit Leuten wie Alain Delon oder Charles Bronson drehte, dann das Fach wechselte, ein Dutzend Romane vorlegte — dabei ganz nebenbei handstreichartig den französischen Kriminalroman umkrempelte —, letztes Jahr sogar den Prix Goncourt bekam und neulich, mit lächerlichen 53 Jahren, Autobiographisches geliefert hat? Genau: Wenigstens ist er nicht auch noch Politiker geworden. Sein Buch, sagen wir's gleich, ist vom Feinsten.

Der Mann ist Franzose und heißt Jean Herman. Besser gesagt: Elsässer und nennt sich Jean Vautrin. Sehen Sie, da fängt's schon an. Und weiter geht's damit, daß der Schriftsteller, der früher mal Filmregisseur war, in dem Buch Haarscharf am Leben weder Vautrin noch Herman, sondern Charlie Floche heißt, obwohl es sich dabei ganz offensichtlich um eine Autobiographie handelt. Das läßt sich nämlich unschwer daran ablesen, daß Charlie am 17. Mai 1933 zur Welt kam — genau wie Jean Herman bzw. Vautrin. Und daran, daß sich da einer schwer gequält haben muß, um einiges hervorzuholen, was andere lieber erst gar nicht anrühren würden. (Ja, autobiographisch, nicht nur authentisch.) Die Leute beim Rotbuch-Verlag bestehen in ihrem Klappentext zwar darauf, daß es sich hier um einen Roman handelt, aber Vautrin selber hält sich aus den Gattungsfragen raus.

Das tun wir dann auch und folgen Charlie in sein wundervolles Buch. Zuerst führt er uns sein Haus vor, dann die Familie: Victoire, die Frau (Schauspielerin), Antoine, Sohn1 (Ausreißer), Benjamin, Sohn2 (Autist), und Marie-Marie, die Tochter (schreibt am laufenden Band Briefe). Dann starten wir alle zusammen zu einem Betriebsausflug in die Geschichte des Schriftstellers Charlie Floche, der mal Filmregisseur war. Zum Beispiel nach Algerien, wo Herman den Befehl hatte, am 13. Februar 1960 die Zündung einer Atombombe in der Wüste zu filmen.

Oder nach Venezuela, wo Vautrin 1970 fast mit dem Flugzeug abgestürzt wäre, als er nämlich gerade die ganze Filmkarriere hingeschmissen hatte und bei der Suche nach einem geeigneten Fluchtpunkt im Atlas mit dem Finger auf dem Orinoco gelandet war.

Oder nach Hollywood, wo Herman mit seinem Produzenten Geld für einen Film besorgen mußte und nicht mal genug dabeihatte, um sich was zu essen zu kaufen.

Oder in ein Schlafzimmer des Jahres 1963, wo Charlie und Victoire gerade dabei sind... na ja, eben dabei sind.

Ein Leben voller Abenteuer und Entscheidungsfreude, wie wir sehen, aber auch Charlie wurde nicht ungestraft nach Mitteleuropa hineingeboren, wo natürlich alles mit Vater, Mutter und Adolf Hitler seinen Anfang nahm. Der Vater war Arzt und Kollaborateur, die Mutter Hausfrau und skeptisch, und Adolf Hitler derjenige, der sich alles nahm, was wiederum den Vater mächtig beeindruckte. Bis dann alles vorbei war, Frauen auf offener Straße kahlgeschoren wurden, diejenigen, die bis dahin mucksmäuschenstill geblieben waren, sich als Volkshelden aufspielten und gleich Charlies Vater so sehr zusetzten, daß der sich am 20. August 1944 ein für allemal in seinen Sessel setzte und bis heute so tief und mächtig in Herman rumort, daß Vautrin ihn immer wieder hervorholen muß und ihm das letzte Kapitel widmet. Und diese 15 Seiten haben es in sich, wie man so schön sagt.

Genau wie übrigens die Geschichte mit der Atombombe in Algerien, die Herman mit einem Team zu filmen hatte und bei der er das Resultat anschließend mit Material aus Nagasaki zusammengetürkt hat, weil auf zwei von drei Rollen nix drauf war. Das klingt ganz lustig, aber lesen Sie mal. Da wird's Ihnen schon vergehen. Die hatten da nämlich 6.000 unfreiwillige Zuschauer plaziert, für „die Oper der endgültigen Vernichtung“, „den Polypen der Glut“, „die unheilbringende Sauerei“, „das Superblabla der französischen Armee“, „den Ruggieri-Pilz der Fünften Republik“ und was Charlie bei seiner Suada noch so alles an Begriffen einfällt, während er sich da oben auf seinem Hügel mit den Ton- und Kameraleuten abhampelt. Genau genommen fallen ihm die natürlich alle erst 25 Jahre später ein, während er in seinem Schreibzimmer unterm Dach sitzt und brütet. Aber da sehen Sie mal, wie fesselnd der schreiben kann.

Überhaupt: das Schreiben. Wollen Sie mal erleben, wie man über die großen Gefühle schreibt, ohne alles gleich in einem trüben Meer der Larmoyanz absaufen zu lassen, wie es Vautrins deutsche Kollegen seit Jahren treiben? Oder wie man die Welt seines autistischen Kindes zu Papier bringt, ohne uns auch nur ein einziges Mal auf die Idee kommen zu lassen, der Kleine sei arm dran? Oder wie man sich ellenlange Briefe einer Elfjährigen ausdenkt, die ihre Tante über die Familie auf dem laufenden hält?

Um aber eventuellen Enttäuschungen vorzubeugen: Wir reden hier nicht über chronologisches Erzählen oder so was, sondern über ausuferndes, sprudelndes, überbordendes Phantasieren, über den Versuch, 53 Jahren die Form von 450.000 Stunden zu geben und für uns dann die bedeutendsten paar tausend herauszukondensieren. Charlie macht das so, daß er sich hinsetzt und überlegt, wo es im Leben am meisten wehgetan hat, um dann so lange an der alten Wunde herumzudoktern, bis sie sich in, na ja, nicht gerade Wohlgefallen, aber doch was Akzeptables auflöst. Oder sagen wir's anders: Vautrin sind lodernde Feuer lieber als Schwelbrände. Und wenn sie glauben, daß Autobiographisches und Phantasieren sich ausschließen, dann haben Sie sich geschnittten. Das sieht dann nämlich so aus (um noch einmal auf die Bombe zu kommen): „In achthundert Meter Höhe kratzen drei Düsenjäger an dem Wolkenplafond, das zusehends blau wird. Gleich werden sie der Wolke ein paar Proben entnehmen. Momentan machen sie noch etwas Reklame für die parallelen Geraden. Alle Zivilen sind wieder an ihren Plätzen. Sie sitzen mit dem Rücken zur Schweinerei des Jahrhunderts und warten.“ Herman, wie gesagt, oben auf dem Hügel. Und bei solch einem monströsen Unterfangen paßt dann plötzlich sogar Abgeschmacktes wie etwa das hier: „Der Sonne am Horizont blutet das Zahnfleisch“, was wir ansonsten, seien wir ehrlich, nicht mal einem New Yorker Kokainliteraten durchgehen ließen.

Ganz am Anfang, gleich auf Seite1, gibt Charlie übrigens einen Hinweis auf das, was uns da auf den restlichen 274 Seiten erwartet. Den geb' ich Ihnen noch mit: „Im Verlaufe dieses Buches der Rettung, verfaßt am Rande der Autobahn, werde ich genügend Gelegenheit haben, Ihnen zu erklären, um was für eine Art von Flucht aus der Wirklichkeit es sich bei Charlie Floche handelt, so daß Sie sich auf der zweiten Seite mit lakonischen Bemerkungen über ihn begnügen können.“ Also lakonisch: anhaltender Applaus.

Jean Vautrin: Haarscharf am Leben. Aus dem Französischen von Marie Luise Knott. Rotbuch-Verlag, 275 Seiten, 34 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen