Fäkalienskandal im Neckarstadion

In der Bundesliga-Relegation schafften Stuttgarts Kicker ein 1:1 gegen St. Pauli Hamburg-Coach Wohlers und die Begegnung der überirdischen Art: Er traf den Fußballgott  ■ Aus Stuttgart Peter Unfried

„Da will man fascht nicht mehr leben. Das ischt ja ein Elend.“ Fritz Selger, „blauer“ Stuttgarter Metzger im Ruhestand, bekannt dafür, in seinem Laden, keine „roten“ VfBler zu bedienen, litt. Und viele mit ihm: „Scheißdreck“ sprach Marcus Martin, „echt Scheiße“ fand's Alois Schwartz, der Torschütze, und 30.000 im Neckarstadion, sofern nicht im Pauli-Block delirierend, gaben ähnliche Äußerungen des heftigen Bedauerns vermischt mit einer gehörigen Portion Ärger von sich.

Die Stuttgarter Kickers, ansonsten eher ein mäßig begabter Haufen gehobenen Zweitliganiveaus hatten (man neigt ja im Sport immer etwas zum Extrem) ihr Spiel der Spiele gemacht. Selbst Pauli-Trainer Horst Wohlers benutzte das Adjektiv „sensationell“, und Zeitzeugen konnten sich nicht erinnern, seit dem Gründungsjahr 1899 schon einmal Ähnliches gesehen zu haben, aber, aber, etwas fehlte. Was? Das Sport-im- Dritten-Heinzl, mit etwas Abstand, wußte es: „Ein Aufstieg wäre das i-Tüpfelchen gewesen!“ vermutete dieses blumig, und erwartete von Kickers-Trainer Rainer Zobel ein braves Staffagengenicke, um unvermittelt eiskalt ausgekontert zu werden. „Was hat ein Aufstieg mit dem ,i‘ zu tun“, ächzte der zurück.

Ja, was eigentlich? Soviel wie die Darbietung der St.Pauli-Elf (später zur St.Pauli-Zehn geschwindsüchtigt) mit Erstbundesliganiveau oder mit Fußballspiel überhaupt? „Wir waren ja schon in der Zweiten Liga“, gab Horst Wohlers nach dem Spiel zu, und sah aus wie einer, dem, als er am wenigstens damit rechnete, ein Gott begegnet ist: der Fußballgott (hier kein Synonym für Toni Turek!) versteht sich. In der Wohlersschen Diktion: „Wir haben eigentlich nur noch auf unser Glück gehofft. Das kam kurz nach der Pause.“

Und hieß, wie immer, André Golke. Der Pauli-Kapitän köpfte die einzige Chance, die der Bundesligist sich in 90 Minuten „herausspielte“ zum Ausgleich ins Netz, und das zu einem Zeitpunkt, als sie zu Hause in der Herbertstraße schon trauernd die schwarze Reizwäsche aus den Schubladen holten.

Zwar funktionierte die Kickers- Raumdeckung im Mittelfeld, weil sie nie gestestet wurde, recht gut, wie an einer Schnur aufgezogen standen Cayasso, Schwartz, Tattermusch und Fengler, doch ist dieses Abwehrverhalten bei gegnerischen Eckstößen noch nie besonders probat gewesen. Alois Schwartz, der Gölke beim Köpfen zusah, sah's später ein (siehe Eingangsbemerkung).

Dabei hatte gerade der Alois mit einem strammen Schuß (Fengler hatte blind geflankt, die Pauli-Abwehr blind auf Schwartzens rechten Spann...) die Bundesliga-Hauptstadtfrage eigentlich schon geklärt. Zu überlegen waren die Blauen, nicht nur von der Spielanlage, auch von der Physis — eigentlich die Domäne St. Paulis — her, zu konzept- und hilflos taumelte der Erstligist von Runde zu Runde. Als Zanders Zehen Brasas' Hoden statt des Balles trafen und Schiedsrichter Föckler etwas Rotes aus der Tasche nestelte, war alles klar. André Golke zumindest: „Mit zehn Mann und 0:1 ist man bei dieser Witterung praktisch abgestiegen.“

Praktisch gleich „eigentlich“ schon aber praktisch gleich „in der Praxis“ eben nicht, weil „nach wie vor der Torwart beide Hände benutzen (darf)“ (Rainer Zobel), was Volker Ippig meisterlich demonstrierte und weil Pauli dann doch noch ein taktischer Schachzug gelang. Die zehn Verbliebenen entschlossen sich, gegen zehn Stuttgarter zu spielen und einen laufen zu lassen, Reinhold Tatterbusch nämlich. Der einst aus Meppen gekommene (warum eigentlich?) „Emsland-Zico“, stand folglich allein in der Gegend rum, dreimal auch mit Ball vor Ippig, allein er traf nicht ins, ja nicht einmal das Tor. Das hatte auch keiner ernstlich erwartet.

Also, Samstag wieder, in Gelsenkirchen, Wohlers hofft jetzt auf zehntausend Hamburger und einige Rekonvaleszenten. Zobel hängte seine Jungs sofort nach Schlußpfiff an Glucosetröpfe und behauptete dreist „wir werden wieder so ein Spiel abliefern“. Im VIP-Raum gröhlten Stuttgarter und Hamburger gemeinsam „Nie mehr zweite Liga“. Aber ganz im Ernst, wie's auch ausgeht auf Schalke, für die einen wird „nie mehr“ bereits am Samstag zu Ende sein, für die anderen spätestens in einem Jahr.

FC St. Pauli: Ippig - Gronau (45. Manzi) - Trulsen, Schlindwein - Ulbricht (87. Dammann), Olck, Knäbel, Zander, Jensen - Golke, Ottens.

Zuschauer: 45.000.

Tore: 1:0 Schwartz (25.), 1:1 Golke (51.).

Stuttgarter Kickers: Brasas - Wolf - Ritter, Novodomsky (87. Stadler - Fengler, Schwartz, Tattermusch, Cayasso, Imhof - Vollmer (73. Moutas), Marin.