Lehrstellenkatastrophe steht bevor

■ Im Ostteil Berlins fehlen Tausende von Ausbildungsplätzen/ Wie viele es sind, weiß niemand/ Bund und Senat starten »Lehrstellenoffensive« mit drei unterschiedlichen Förderungsprogrammen

Berlin. In Berlin, ob Ost oder West, sind Ausbildungsplätze knapp. Wieviele Lehrstellen wirklich fehlen, wird sich spätestens zu Beginn des neuen Ausbildungsjahres am 1. September zeigen. Bis zu diesem Tag seien alle Prognosen Kaffeesatzleserei, meint Boris Schokotoff, bei der Industrie und Handelskammer (IHK) zuständig für Berufsausbildung. Denn unklar sei derzeit noch, wie viele Gymnasiasten in Ost-Berlin in die Hochschulen, statt in die Betriebe drängten, wie viele Jugendliche der polytechnischen Oberschulen weiterführende Schulen besuchen würden, statt sich um eine Lehrstelle zu bemühen, und vor allem, wieviel Jugendliche aus Ost-Berlin sich auf eigene Faust in den alten oder neuen Bundesländern einen Ausbildungsplatz organisierten oder schlicht erst einmal jobben wollten. »Sicher wie das Amen in der Kirche ist nur«, sagt Schokotoff, »wir kommen in die Bredouille«, zumal ebenfalls unklar sei, wie viele Betriebe in Ost-Berlin derzeit überhaupt in der Lage seien, Ausbildungsplätze anzubieten.

Ein Warnzeichen für den bevorstehenden Ausbildungsnotstand sind die kürzlich von der IHK veröffentlichten Zahlen des Landesarbeitsamtes. In der Statistik notiert sind nur die Jugendlichen, die das Arbeitsamt um eine Lehrstellenvermittlung gebeten haben. Demnach fehlen derzeit, zwei Monate vor Beginn des run auf die Lehrstellen, 4.607 Ausbildungsplätze in Gesamt-Berlin, 1.903 davon in West-Berlin und 2.704 in Ost-Berlin. Über 7.000 Lehrstellen fehlen gar im Land Brandenburg. Brisant sind diese Zahlen, wenn man sie aufschlüsselt. In West-Berlin kommen auf 4.964 Bewerber 3.061 offene Stellen, in Ost-Berlin aber auf 3.669 Bewerber nur 965 offene Stellen. Es sei abzusehen, sagt Schokotoff, daß viele dieser nicht »versorgten« Ausbildungswilligen aus dem Ostteil der Stadt auf den etwas rosiger aussehenden Westberliner Lehrstellenmarkt drängen würden, es hier also zu einem unangenehmen Verdrängungswettbewerb kommen könnte — zumal der Trend nach West-Berlin durch die rund doppelt so hohe Ausbildungsvergütung attraktiv sei und viele Jugendliche annähmen, daß eine Berufsausbildung im Osten nicht dem westlichen Standard entspräche. Im Westberliner KFZ-Handwerk, weiß der für berufliche Bildung zuständige IGM-Sekretär Frank Becker-Radkte, seien ganze Berufsschulklassen schon jetzt aus dem Ostteil. Im Einzelhandel wohnten neun von zehn Lehrstellenbewerbern im Osten.

Daß man im Osten nichts lernen kann, sei ein Vorurteil, sagt der Hauptgeschäftsführer der IHK, Thomas Hertz. Die Ostberliner Ausbildungsbetriebe unterlägen den gleichen Normen und Regeln wie im Westteil, das Ausbildungsniveau würde noch in den laufenden Lehrzeiten erreicht werden, verkündete er auf einer Pressekonferenz in der vergangenen Woche und plädierte bei Notfällen für eine überbetriebliche »Verbundausbildung«. Trotzdem bleibt festzustellen, daß es noch viel zuwenig Ausbildungsbetriebe im Ostteil gibt und dies trotz staatlicher und kommunaler Anstrengungen. Horst Jäckel, Vorstandsmitglied des Berliner DGBs berichtet, daß von den 85 IHK-Betrieben, die im März 1991 noch ausgebildet haben, lediglich 37 im September in die neue Ausbildungsrunde einträten. Das Zauberwort gegen den drohenden Notstand heißt daher »Lehrstellenoffensive«. Drei unterschiedliche Förderprogramme gibt es derzeit, ob sie Erfolg haben, wird sich frühestens im Herbst zeigen.

Als »hoffnungsvolles Anzeichen« nannte Hertz vor allem den im Mai gegründeten sogenannten »Ausbildungsring«, dem sich 40 Ostberliner Betriebe angeschlossen haben. Teilnehmen an diesem Ring können Betriebe, die über ihren eigenen Lehrlingsbedarf hinaus zusätzliche Ausbildungskapazitäten aufweisen. Diese zusätzlichen Plätze werden über das Arbeitsförderungsgesetz von der Bundesanstalt für Arbeit finanziert, der Lehrvertrag wird auf überbetrieblicher Basis vom »Verein zur Förderung beruflicher Bildung« abgeschlossen. Mitglieder in diesem Verein sind die IHK, die Vereinigung der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg und demnächst auch die Handwerkskammer. Dem Arbeitsamt gemeldet wurden bereits 1.250 freie Plätze. Allerdings wurde bisher kein einziger Platz vom Arbeitsamt vermittelt. Der Leiter der Abteilung Berufsberatung beim Landesarbeitsamt, Jenschke, argumentiert, daß erst die in Ost- und Westberlin freien Ausbildungsplätze vermittelt werden müßten, bevor der Staat zusätzliche Plätze finanzieren könne. Zudem müsse erst abgewartet werden, ob das bereits beschlossene Lehrstellenförderungsprogramm der Bundesregierung und die demnächst vom Senat zu verabschiedenden »Richtlinien zur Förderung der Berufsausbildung« greifen.

So hat die Bundesregierung eine Prämie von 5.000 Mark zur Unterstützung mittelständischer Betriebe im Osten ausgesetzt, die 1991 einen Auszubildenden einstellen werden. Zuschußberechtigt sind nicht nur Betriebe, die erstmalig ausbilden, sondern auch solche, die sogenannten »Konkurslehrlingen« eine Fortsetzung der Ausbildung garantieren. Diesen Betrag erhalten aber nur die Betriebe, die weniger als 20 Personen beschäftigen. Die Initiatoren dieses Programms, vornehmlich FDP-Bundespolitiker, erhoffen sich davon eine Stärkung von Kleinstunternehmen und neu gegründeten Handwerksbetrieben. Weil der Mittelstand aber derzeit gegen horrende Gewerbemieten und andere Finanzprobleme ankämpfen müsse, greife »diese Lehrstellensubvention im Moment fast überhaupt nicht«, bedauert der IHK-Berufsbildungsexperte Schokotoff.

Kritik meldet die Gewerkschaft IG Metall an. Frank Becker-Radtke bezeichnet es als »Wahnsinn«, daß die kleinen Betriebe, die um ihre Existenz rängen und keine Investitionen in die Berufsausbildung stecken könnten, 5.000 Mark pro Lehrling erhalten sollen, während große Betriebe die unausgelastete Ausbildungskapazitäten besäßen, nicht in die Pflicht genommen würden. Kritik an dieser einseitigen Mittelstandsförderung äußerte auch das Deutsche Insitut für Wirtschaftsförderung in seinem neuesten Wochenbericht. Die kleinen Betriebe besäßen noch keine ausbildungsorientierte Infrastruktur, das Programm müsse daher durch Länderprogramme erweitert und mit zusätzlichen Maßnahmen flankiert werden.

Das flankierende Programm auf Länderebene soll vom Senat in der nächsten Woche verabschiedet werden. Die Richtlinien sehen vor, daß alle Ost- und Westberliner Betriebe, die in diesem Jahr mehr Lehrlinge als gewöhnlich ausbilden, unabhängig von der Betriebsgröße 5.000 Mark Zuschuß vom Senat erhalten. 20 Millionen Mark soll dieses Sonderprogramm kosten, finanziert werden könnten damit 4.000 neue Lehrstellen. aku