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Der Horror beginnt mit dem Verdacht

■ Diese Woche treffen sich in Berlin über 7.000 Experten aus aller Welt zu einem Kongreß über Chemotherapie. Diese Behandlung gegen Krebs ist umstritten, denn die Medikamente greifen auch gesunde Körperzellen an. Die Folge sind schwerwiegende Nebenwirkungen. Die Krebspatientin Heidi Schewe leidet noch heute darunter. Vor zwei Jahren begann ihre quälende chemotherapeutische Behandlung. Wie es ihr in dieser Zeit erging, hat sie aufgeschrieben.

Meine Chemotherapie liegt zwei Jahre zurück. Warum ist dieser Zeitpunkt so wichtig für mich und nicht der Tag, an dem alles anfing, der Tag, an dem ich Krebspatientin wurde?

Damals glaubte ich, daß Krebs eine Krankheit sei wie jede andere, die einen treffen, die man aber auch überwinden könne. Mein Freund ist Chirurg und half mir in den ersten schwierigen Phasen, bis es dann doch nicht mehr ohne einen Krebsspezialisten, einen Onkologen ging. Dann nahmen sich Automaten meiner an und tasteten mich ab. Ich wurde klassifiziert, operiert, therapiert und nachgesorgt.

Für die meisten Frauen beginnt der Horror beim „Verdacht“. Der Frauenarzt umschreibt es oft mit den Worten: „Da ist etwas, das abgeklärt werden muß.“ Nach der Mammographie ist zu hören: „Da kann man noch nichts sagen, das Gewebe muß untersucht werden. Ich überweise Sie in ein Krankenhaus.“ Keiner spricht aus, worum es geht, doch die besorgten Mienen sagen alles. Einer schiebt die Verantwortung zum nächsten. Die Frau bleibt mit ihrer Unsicherheit und ihrer Angst allein. Danach wird auch nicht gefragt.

Das Schema des ärztlichen Handelns bei Krebsverdacht ist vorgegeben: Bestätigt sich der Verdacht, wird es der Patientin mitgeteilt, allerdings mit der Einschränkung, daß das Ausmaß der Erkrankung noch festgestellt werden müsse. Jetzt läuft die Maschinerie richtig an: Operation, Knochenszintigramm, Lebersonogramm, Röntgen des Brustkorbes, der Lunge und aller Körperteile, die jemals krank waren. Tausende von Röntgenstrahlen!

Das dient der Klassifikation. Drei Buchstaben — T (Tumor), N (Noduli-Lymphknotenbefall), M (Metastasen) — bekommen je nach Größe und Anzahl ihres Auftretens Ziffern zugeordnet. Je kleiner die Zahl, je günstiger die Prognose, desto weniger aggressiv die Therapie. Daraus ergibt das Stadium der Erkrankung I-IV. Nach diesen Ziffern wird über die Behandlung entschieden: Chemotherapie, Strahlentherapie oder beides zusammen. Die Patientin kann diese Behandlungen verweigern oder muß mit einer Unterschrift zustimmen.

Geht etwas schief, heißt es dann, „sie hätte doch unterschrieben“. Wer widerspricht schon im Krankenhaus, wenn der Arzt nur das Beste will? Es muß wohl sein, denkt sie und schreibt ihren Namen auf das Papier.

„Es geht nicht, die Brust muß ab“

Als ich von den Tumoren in meiner Brust erfuhr, ahnte ich noch nicht, was auf mich zukam. Mein Freund entfernte im Krankenhaus die beiden Tumore. Aber der Onkologe machte ein bedenkliches Gesicht. Am nächsten Morgen schreckte er mich aus dem Schlaf und eröffnete mir: „Es geht nicht, die Brust muß ab!“ Ich versuchte das als einen bösen Traum abzutun und fragte einen weiteren Arzt. Keine Chance. Ich heulte, mein Freund redete mit mir und versprach: „Nach der Chemotherapie mache ich dir eine neue Brust.“

Danach ging es mir etwas besser. Durch die zweite Operation blieb mir zwar die Strahlentherapie erspart — wird die Brust nicht „abgetragen“, erfolgt immer eine Bestrahlung (sechs Wochen, zwei- bis dreimal wöchentlich). Da einige meiner Lymphknoten befallen und entfernt worden waren, mußte ich die Chemotherapie über mich ergehen lassen.

Später wurde ich oft auf meine „schöne“ Operationsnarbe angesprochen. Ich verstand das nicht. Hielt ich es doch für eine Selbstverständlichkeit, daß der Chirurg sich wenigstens bemühte, den körperlichen Schaden so gering wie möglich zu halten. Denn für eine Frau ist diese Operation ein schwerwiegender Eingriff in ihre Identität als Frau. Später habe ich dann erfahren, daß viele Frauen bei der Operation regelrecht verunstaltet wurden und das Krankenhaus an Körper und Seele verstümmelt verlassen.

„Die Haare werden Sie wahrscheinlich verlieren“

Von der Operation erholte ich mich schnell. Der Onkologe drängelte mit der Chemotherapie. Sie soll so früh wie möglich begonnen werden. Ich wurde gefragt, ob ich an einem klinischen Test teilnehmen wollte. Es sollte eine Zusammensetzung von Chemikalien mit stärkerer Wirkung, aber auch mit stärkeren Nebenwirkungen getestet werden, die sonst erst in fortgeschrittenen Stadien angewendet wird. Ich fühlte mich stark und deshalb willigte ich ein. Außerdem sagte ich mir, die Ärzte würden mir nichts Unerträgliches zumuten. Das war ein schwerer Irrtum!

Natürlich wurde ich auch über die Wirkungen und Nebenwirkungen der Chemotherapie im allgemeinen und meiner im besonderen informiert. Die Medikamente würden nicht nur die Krebszellen, sondern auch gesunde Körperzellen zerstören, vor allem Blutzellen, rote und weiße Blutkörperchen und die Thrombozyten. Deshalb seien Infektionen und Verletzungen unbedingt „zu vermeiden“.

Durch sogenannte Antiemetika habe man aber die Zerstörung von Schleimhautzellen, beispielsweise in der Magenwand, was zu Erbrechen und Übelkeit führt, im Griff. Meine Haare würde ich wahrscheinlich verlieren. Aber jeder Mensch reagiere unterschiedlich und deshalb sei eine genauere Vorhersage der Nebenwirkungen, die nur von kurzer Dauer wären, nicht möglich. Das war's dann schon.

Für jedes Medikament erhielt ich einen Zettel, auf dem die Nebenwirkungen aufgeführt waren. Aber da stand auch noch mehr: Sehstörungen, Schweißausbrüche, vorübergehendes Ausbleiben der Menstruation und so weiter. Ich wurde nicht darüber aufgeklärt, daß die Schweißausbrüche mit dem Ausbleiben der Periode zusammenhängen, und daß beides auch nicht nur zeitweilig ist. Wenn man nämlich über 40 Jahre alt ist so wie ich, führt die Chemotherapie dazu, daß die Menopause innerhalb von zwei Monaten mit all ihren hormonellen Veränderungen und deren körperlichen sowie seelischen Folgen eintritt.

Die Ärzte verschwiegen mir auch, daß ich sehr schlecht schlafen werde, mein Gedächtnis nur noch aus Lücken bestehen und mein Gehirn bis zu einer Woche nach der Injektion eine einzige Nebelsuppe sein würde. Allen anderen Chemo-Patientinnen erging es ähnlich.

Normalerweise werden bei Brustkrebsoperationen sechs Zyklen (jeweils vier Wochen lang) einer Chemotherapie verordnet. Im StadiumI wird in der 1. Und 2. Woche je eine Injektion verabreicht. In den fortgeschrittenen Stadien nur in der 1. Woche, aber eine andere, stärkere Mischung. Danach sollen sich die Patientinnen zwei bis drei Wochen erholen. Wenn zusätzlich bestrahlt wird, wird die Chemotherapie nach dem 3. Zyklus unterbrochen und sechs Wochen Bestrahlung eingeschoben. Dann geht es weiter mit der chemotherapeutischen Behandlung.Der Beginn meiner Chemotherapie verzögerte sich, weil der Onkologe erst einmal Urlaub hatte. Dann ließ ich die Therapie ambulant vornehmen, das heißt, ich mußte nur an den Therapietagen ins Krankenhaus. Ich erhielt die Injektion und konnte wieder gehen. Das hat den Vorteil, daß die Patientinnen zu Hause in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können.

Bei der ersten Injektion gab mir der Arzt keine Medikamente gegen Erbrechen. Ich lag noch nach drei Tagen im Bett und übergab mich schon, wenn ich nur den kleinen Finger rührte. Ich hämmerte mir ein: nur noch elfmal! Bei der zweiten Injektion wurde mir ein Antiemetikum beigemischt, das die Brechreize etwas linderte. Aber dafür wurde ich schrecklich nervös. Ich konnte nicht schlafen. Meine Haare waren ausgefallen. Die Kiefer taten mir weh, weil ich ständig die Zähne zusammenbiß.

„Man wird das im Auge behalten“

Nach dem zweiten Zyklus merkte ich, woran das lag: Ich hatte schwere Wahrnehmungs- und Gleichgewichtsstörungen. Ich sprach mit dem Arzt darüber. Er entgegnete nur: „Man wird das im Auge behalten.“ Nach dem dritten Zyklus fand ich mein Befinden unerträglich. Mir fiel ein, daß ich schon früher immer Probleme mit Medikamenten hatte und deshalb auf die Hälfte einer Dosis gesetzt wurde. Als ich dem Arzt davon erzählte, zeigte er kein Erbarmen. Ich machte ihm klar, daß ich psychisch und physisch am Ende sei. Dazu er: „Das sagen alle.“

Ich wollte nicht mehr zur Chemotherapie gehen und heulte nur noch. Alle, die ich fragte, Freunde, Bekannte und der Sozialarbeiter erklärten mir: Reiß Dich zusammen. Du mußt durchhalten. Das ist wichtig.

Bei einer ärztlichen Untersuchung wurden tatsächlich neurologische Schäden des Wahrnehmungs- und Gleichgewichtssystems festgestellt, die jedoch nicht von den Medikamenten kämen. Ich hätte möglicherweise einen Hirntumor, aber das müsse erst untersucht werden. Für mich hieß das wieder: Kontrastmittel gespritzt zu bekommen und scheibchenweise geröntgt zu werden. Das Ergebnis: kein Hirntumor.

Doch die Ärzte ließen nicht locker. Vielleicht wäre in meiner Wirbelsäule ein Tumor. Ich konnte mich schon nicht mehr wehren. Ich mußte noch einmal zum Neurologen. Daß mir da wieder grausame Untersuchungen bevorstanden, verschwiegen die Ärzte wohlwissend. Aber diesmal landete ich bei einem „vernünftigen“ Neurologen, der meinte, daß die Untersuchungen genausogut später gemacht werden könnten. Zunächst einmal sollte eines der Medikamente aus der Mischung rausgelassen werden. Das hätte schon einmal zu solchen Symptomen geführt.

Ich wurde immer apathischer. Wenn ich mich früher zum Essen gezwungen hatte, weil es sein mußte, ließ ich es jetzt sein. Ich flog zu Freunden nach Rom, um für eine Woche alles zu vergessen. In der Nacht vor der nächsten Injektion kam ich zurück. Ich weiß nicht mehr, wie die Tage vergingen. Mein Freund wollte mich ablenken und nahm mich deshalb mit in ein Ferienhaus. Nur noch ein Zyklus, dachte ich, dann wird es besser.

Aber die Tage und Nächte schienen immer länger zu werden. Ich lief ziellos in der Stadt herum. Schließlich begann der letzte Zyklus, dann die letzte Injektion. Ich wartete auf das „Mich-Besser-Fühlen“. Aber es trat nicht ein. Die Angst vor der Chemotherapie, die ich monatelang unterdrückt hatte, brach aus mir heraus. Gnadenlos. Damit habe ich heute noch zu kämpfen, und ohne angstreduzierende Medikamente geht gar nichts.

„Ich muß mich wieder ins Leben einklinken“

Die folgenden vier Monate waren ein einziger Horror. Ich konnte nicht schlafen, nicht alleine sein, ich konnte vor allem nicht darüber nachdenken, was nun werden sollte. Mich beherrschte nur das zwanghafte Gefühl: Du mußt wieder arbeiten, dich wieder ins Leben einklinken!

Das Versprechen meines Freundes, die neue Brust, half nicht viel. Ich fühlte mich zwar wieder körperlich vollständig, auch meine Haare waren nachgewachsen und ich mußte nicht mehr jeden Morgen meine Ersatzteile — Prothese und Perücke — anlegen. Aber wozu? Glücklicherweise hatte ich viele Freunde, so daß ich nie allein war. Aber ich brauchte professionelle therapeutische Hilfe. Bis ich jemanden fand, dauerte es eine Weile. Diese Zeit überbrückten mein neuer Hausarzt, meine Frauenärztin, die Ärzte vom sozialpsychiatrischen Dienst im Gesundheitsamt und Therapeuten der Selbsthilfe Krebs — manchmal täglich.

Meine Psychotherapeutin wurde zu einer entscheidenden Hilfe. Ich spürte, da wußte jemand, wie ich mich wirklich fühlte. Ich glaubte ihr, daß es besser werden könnte. Sie hilft mir, Geduld mit mir selbst und meinen körperlichen und geistigen Einschränkungen zu haben.

Einen Versuch, auf einer halben Stelle zu arbeiten, startete ich nach fünf Monaten. Zwei Monate später gab ich wieder auf. Es ging nicht. Ich mußte noch warten und erst einmal in mir aufräumen und alles sortieren. Mit Hilfe meiner Therapeutin, aber auch allein versuchte ich, die Krebserkrankung und mein Leben, das mich dahin geführt hatte, zu analysieren. Ich las alles über Krebs und sprach mit Ärzten und Therapeuten. Ich war wütend auf die Ärzte, wie sie Menschen behandeln ohne Respekt vor deren Leiden. Aber auch auf andere Menschen, die sich keine Gedanken darüber machen, wie sie mit ihrem Handeln Menschen verletzen.

In meinem eigenen Leben — privat und beruflich — war vieles nicht gut gelaufen. Schlimmer jedoch, ich fühlte mich immer zu schnell schuldig an allem. Jetzt konnte und mußte ich mir Zeit lassen, manches zu versuchen, wieder neugierig zu sein. Langsam kam eine neue Gelassenheit. Konnte ich die auch in Konflikten umsetzen?

Gelegenheit, das zu überprüfen, boten die Nachsorgeuntersuchungen. Meine Frauenärztin schickte mich ins Klinikum. Ein unfreundlicher Arzt, ungeduldige Leute bei der Terminvergabe schimpften, als ich nicht alles gleich begriff. Nee, dachte ich, nicht mit mir. Ich ging wieder. Nach einem Jahr — und durch die Vermittlung meiner Therapeutin in einer anderen Klinik — ging alles ganz gut. Es fehlten nur noch das Knochenszintigramm und eine Leber-Tomographie. Da quälten sie mich wieder. Ich fragte mich, wer hier eigentlich für wen da ist. Ich wollte mich nicht mehr unter Druck setzen lassen und ihrem Diktat aussetzen.

Schlafen kann ich noch immer nicht richtig — nie mehr als zwei Stunden hintereinander. Wenn ich müde bin, und nicht gerade sehr aufgeregt, geht es etwas besser. Das läßt hoffen. Wenn ich allein bin, überfällt mich noch immer die Angst. Dann ist mir, als ob ich den Boden unter den Füßen verliere und umherwirbele. Dennoch ist es, glaube ich, schon besser geworden, oder ich habe mich daran gewöhnt.

Der amerikanische Psychologe LeShan schreibt: „Du kannst den Krebs nur überwinden, wenn das Leben Dir Freude bereitet. Such nach dem, was Dir Spaß gemacht hat und versuche das oder etwas ähnliches wieder zu tun.“ Beruflich tue ich ein bißchen das, was mir Spaß macht, und vielleicht finde ich noch mehr. Ich bin wieder stolz auf mich, weil ich trotz schlechter Ausgangspositionen in meinem Leben vieles getan habe, was gut und was wichtig ist. Ich werde im Laufe dieses Jahres noch eine Misteltherapie beginnen, das wird guttun. Ich lebe wieder und kann wieder lachen.

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