: Zehntausende von Abschiebung bedroht
■ Ab dem 1. Juli droht Zehntausenden hier lebenden Flüchtlingen die Abschiebung, wenn die von den Bundesländern erlassenen Abschiebestoppregelungen auslaufen und der Bundesinnenminister entscheidet,...
Zehntausende von Abschiebung bedroht Ab dem 1. Juli droht Zehntausenden hier lebenden Flüchtlingen die Abschiebung, wenn die von den Bundesländern erlassenen Abschiebestoppregelungen auslaufen und der Bundesinnenminister entscheidet, wer bleiben darf und wer nicht.
Die Welle wird nicht hoch sein, aber lang. Sie wird sich nicht krachend überschlagen, aber sie wird immer wieder anrauschen.“ Wolfgang Grenz, Flüchtlingsreferent von der Menschenrechtsorganisation amnesty international (ai) in Bonn, skizziert für den kommenden 1. Juli ein zunächst überraschendes Bild. Daß die Bundesrepublik rein rechtlich ab diesem Tag nach ai-Schätzungen 50.000 bis 100.000 Flüchtlinge ohne festen Aufenthaltsstatus abschieben könnte, hatte in der letzten Zeit für zum Teil dramatische Schlagzeilen gesorgt: „Massive Abschiebewelle am 1. Juli“ und „Massenabschiebungen noch in diesem Sommer“.
Einem Teil von ihnen sind in den letzten Wochen bereits Briefe ins Haus geflattert, in denen die Ausländerbehörden die nach dem 1. Juli bevorstehende Abschiebung ankündigen. Im Juli aber, im Sommer überhaupt, meint Wolfgang Grenz, werde erst einmal nicht viel passieren. Vielleicht bleibe es auch im Herbst „recht ruhig“. Wenn bis dahin allerdings „die Sachlage“ noch so sei wie heute, dann würden regelmäßig, über Monate und Jahre hinweg, Zehntausende von sogenannten De-facto-Flüchtlingen aus der Bundesrepublik abgeschoben — Flüchtlinge, die seit vielen Jahren hier leben. Flüchtlinge, die in ihren Herkunftsländern von Folter und Todesstrafe, Krieg, Bürgerkrieg und Willkürjustiz bedroht sind.
„Die Sachlage“: Bisher durfte auch ein Teil jener Flüchtlinge bleiben, deren Asylbegehren die deutschen Richter abgelehnt hatten. Voraussetzung war eine bedrohliche Situation in den jeweiligen Heimatländern. Die einzelnen Bundesländer setzten die Abschiebung in bestimmte Staaten „aus humanitären Gründen“ generell aus. So wurden Palästinenser nicht in den Libanon und Tamilen nicht nach Sri Lanka zurückgeschickt, weil dort zur Zeit Bürgerkrieg herrscht. Iraner durften hierbleiben, weil ihnen in der Heimat Willkürjustiz drohte. Allerdings bekamen nur wenige dieser sogenannten De-facto- Flüchtlinge eine Aufenthaltsbefugnis. Die meisten wurden von den deutschen Behörden lediglich jahrelang „geduldet“ — ein aufenthaltsrechtliches Damoklesschwert, das lediglich die vorläufige Aussetzung der Abschiebung bedeutet.
„Für Tamilen ist es weiterhin gefährlich, zurückzukehren“
Seit dem 1. Januar hat sich die Lage dieser „Geduldeten“ noch wesentlich verschlechtert: Nach §54 des seit dem 1. Januar geltenden neuen Ausländergesetzes können die Länder nurmehr einen sechs Monate kurzen Abschiebestopp erlassen. So laufen am 30. Juni die bisher üblichen Duldungen für Flüchtlinge aus Krisenregionen aus. Ab dem 1. Juli muß der Bundesinnenminister damit einverstanden sein, daß die Bundesländer De-facto-Flüchtlinge aus Krisenregionen weiter dulden. Und das ist nicht zu erwarten: Schon vor Wochen hat Wolfgang Schäuble den Innenministern der Bundesländer mitgeteilt, daß er „derzeit ... hinsichtlich keiner Ausländergruppe die Möglichkeit für eine generelle Abschiebestoppregelung für mehr als sechs Monate...“ sehe. Der Grund: Die Lage in den meisten Herkunftsländern habe sich so verändert, daß man die De-facto- Flüchtlinge dorthin zurückschicken könne.
„Entbehrt jeder Grundlage“, sagt Herbert Leuninger, Sprecher der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft pro asyl dazu. Für ihn gibt es derzeit kein Herkunftsland von De-facto- Flüchtlingen, in dem die Menschenrechtssituation den Standpunkt vom Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble rechtfertigt: „Für Tamilen etwa ist es weiterhin gefährlich, in ihre Heimat zurückzukehren, ebenso für Iraner oder Iraker.“ Der Bundesinnenminister läßt diese Kritik nicht gelten. Er verweist darauf, eine Reihe von De-facto-Flüchtlingen vorerst vor einer Abschiebung geschützt zu haben.
Auch die Länder haben bisher nur wenig unternommen
Tatsächlich trifft das aber nur auf kleine Gruppen von Betroffenen zu: Chinesische Wissenschaftler etwa und türkische Christen und Jeziden, die bis Ende 1989 eingereist sind, dürfen höchstens noch zwei Jahre bleiben. Weiter geduldet werden unter eng gefaßten Voraussetzungen einige Ätiopier und Afghanen. Iraner, Libanesen und Palästinenser sind nur geschützt, wenn sie mindestens seit Ende des Jahres 1985 hier leben — wobei gerade ab 1986 besonders viele Menschen aus diesen Ländern in die Bundesrepublik geflüchtet sind.
Allerdings haben auch die Innenminister der Bundesländer bislang nichts oder zu wenig unternommen, um die De-facto-Flüchtlinge vor der drohenden Abschiebung zu schützen. So sind auch die SPD-regierten Länder nicht geschlossen an den Bundesinnenminister mit der Bitte herangetreten, den generellen Abschiebestopp für bestimmte Gruppen von Flüchtlingen zu verlängern. Lediglich das Saarland hat von Schäuble verlangt, er solle die Bleiberechtsregelungen der Bundesländer übernehmen. Einen Vorstoß soll es demnächst auch von Hessen und Rheinland-Pfalz geben. Das rot-grüne Niedersachsen hat Ende 1990 22.000 De-facto- Flüchtlingen noch schnell ein festeres Aufenthaltsrecht verschafft.
Viele Flüchtlinge haben bereits resigniert
Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Schnoor (s. Interview) tröstet die 28.000 Betroffenen in seinem Land mit dem winzigen Stückchen Spielraum, den das neue Ausländergesetz den einzelnen Bundesländern gelassen hat; demnach müßten die nordrhein-westfälischen Ausländerbehörden in jedem Einzelfall prüfen, ob ein Flüchtling in seiner Heimat „konkret“ von Folter oder Todesstrafe oder Gefahr für Leib und Leben bedroht sei und deshalb hierbleiben dürfe. Kein allzu starker Trost: denn solcherlei für die eigene Person nachzuweisen, dürfte schwierig sein — sehr viel schwieriger als darzulegen, daß man Angehörige(r) einer gefährdeten Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe ist, die bisher in der BRD „generell“ geduldet wurde.
„Freilich“, sagt Wolfgang Grenz, „werden nicht alle auf einmal gehen müssen.“ Der Flüchtlingsreferent von amnesty international glaubt, daß die Ausländerbehörden mit der Aussicht, demnächst Zehntausende von De-facto-Flüchtlingen abschieben zu müssen, vorerst überfordert sind. Allerdings befürchtet er auch, daß viele nicht ausreichend beraten sind, um die verbleibende Zeit zu nutzen — indem sie gegen die angekündigte Abschiebung Widerspruch bei der Ausländerbehörde, notfalls auch vor Gericht einlegen. „Diese Chance ergreift nur, wer nicht resigniert hat. Aber das haben inzwischen nicht wenige. Und genau das wollten die Bundesregierung und die meisten Länderregierungen erreichen.“ Ferdos Forudastan, Bonn
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