Allein, die Masse macht's

■ Die FU-Studiobühne spielt »Die Komödie der Eitelkeit« von Elias Canetti im SO36

Wie in Schachtelkästen moderner Mietshausgiganten(Foto:David Baltzer/Sequenz)

Redet der brave Bürger einmal von der Masse, geht es ihm nur im Ausnahmefall um eine physikalische Größe — weit mehr kümmert ihn seine psychische Verstimmung: Die unübersichtliche Zusammenballung seiner Artgenossen vor Augen, bekommt er es ganz gehörig mit der Angst.

So sitzt er dann, von elementarer Berührungsfurcht besessen, inmitten seiner fest verrammelten vier Wände und sinniert über die Gefährlichkeit von Aufmärschen und Kundgebungen als unberechenbare Gefahrenquelle für das leibliche Wohl des Individuums; die Masse — ein Schreckensbild latenter Gewalt, noch diesseits jeglicher ideologischer Zuordnung.

Und doch — eben dieser brave Bürger genießt es auch, im Dunkel des Theatersaals sich im gemeinsamen Erstaunen und Entsetzen zu verlieren, unter lauter Gleichgesinnten sich pudelwohl zu fühlen. Und so bleibt etwas Undefinierbares um das Phänomen der Masse: mal als Gefahrenquelle, mal als Schutzhort stellt es sich jeder Eindeutigkeit entgegen und läßt das Individuum sich mal freuen und mal schaudern.

Die Studiobühne an der FU hat es nun gewagt, sich der Sache anzunehmen und bringt die Masse auf die Bühne. Die sitzt denn in grellen Farben auf den Stühlen und beschaut ihr Spiegelbild. Über 20 Gestalten werfen — wenn der zuschauer den stillen Raum betritt — in einträchtigem Zeitlupentempo tiefe Blicke auf ihr Konterfei und fühlen sich allem Anschein nach bei ihrer Selbstbetrachtung äußerst wohl. Allein oder mit anderen hocken sie in einer Konstruktion aus Baugerüstteilen: Wie Ratten im Versuchslabor, wie Menschen in Schachtelkästen moderner Mietshausgiganten.

Alsbald erscheint der Massen-Kitt. Er tritt auf in der juxigen Gestalt des allabendlich schmeichelnden TV-Showmasters, der — das Mikro in der breit grinsenden Fresse — sein so nett verbindendes »Und wir und wir und wir und wir« herausposaunt. Und als wollten die emsigen Spiegelgucker nun wissen, wie es um dies »Wir« bestellt ist, reißen sie plötzlich die Papierwände ihrer Kabinen weg und erschrecken zutiefst vor dem, was sie da sehen: den eitlen Nachbarn bei der Selbstbetrachtung. »Die Komödie der Eitelkeit« kann beginnen.

Dies frühe Drama des Nobelpreisträgers und Weltbürgers Elias Canetti beleuchtet die Dekadenz eines Volkes, daß in seiner Selbstsucht derart zu ersticken droht, daß eine nicht näher bestimmte Regierungsmacht verfügt, daß alle Spiegel und alle Bilder zu vernichten seien; unter Androhung der Todesstrafe für den, der seiner selbst noch angesichtig bleiben möchte. In diesem an andere totalitäre Utopien gemahnenden Spiel wird der Mensch einer hypothetischen Spiegellosigkeit ausgesetzt, so daß er im wahrsten Sinne des Wortes die Eigenkontrolle aus dem Blick verliert. Doch wird dadurch die Selbstsucht nur gesteigert. Die Anfälligkeit für Lug und Trug wächst sprunghaft; Schmeichelprostitution, Spiegelbordelle und ein überbordender Reflektionsschwarzmarkt blühen auf. Das staatlich verordnete Konzept mißrät, menschlicher Urtrieb läßt sich nicht per Verordnung aus der Welt treiben.

Das 1933/34 entstandene Stück ist eine seltsam ungefüge Mischung aus anthropologischer Skizze und zeitbezogener Satire. Dramatische Struktur konkurriert mit philosophischer Tiefgründigkeit. So hat sich eine Inszenierung zu entscheiden, ob sie das Feuer, das auf Befehl von oben alle identitätsstiftenden Bilder und Spiegel verbrennt, als faschistisch einfärbt oder als allgemeines Beispiel für die Folgen einer Unterdrückung des Ununterdrückbaren auflodern läßt. Entschieden werden muß, wie weit man das Stück als dramatischen Vorläufer der theoretischen Abhandlung »Masse und Macht« von 1960 behandelt, oder es auch als Figurensammlung individueller Charaktere ernstnimmt.

Die Inszenierung von Bernd Mottl setzt ganz auf die Beschriebung des Massenphänomens, das so gut es geht versinnlicht wird. Fast immer ist der ganze Darstellerkorpus auf der Bühne, darf nur zu Beginn einige Male verschwinden, um dann umso wirkungsvoller als durchziehender Zug der Posen und Gesten durchs Bühnenbild zu rasen. Die Masse macht's.

Doch bei aller gefälligen choreographischen Zurschaustellung und einem bestaunenswerten Zusammenspiel des Ensembles: dem Geheimnisvollen der ent-individualisierten Stimmung wird ein zu perfektes Mäntelchen übergeworfen; trotz schummriger Beleuchtung ist Sicht- und Faßbarkeit garantiert. Manches erinnert da gar zu sehr ans Fernsheballett, mag's auch ironisch gemeint sein. Überhaupt rangiert Medienkritik ganz oben: der allgegenwärtige TV-Apparat macht's deutlich.

Daß am Ende einige Verwirrungen zurückbleiben, ist sicher auch dem ausufernden, nach allen Seiten hin weg-philosophierenden Stück anzukreiden. Doch wenn man sich schon entschlossen hat, das Individuelle auf Sparflamme zu kochen und da, wo Canetti ein Arsenal buntschillernder Figuren mit Namen Weihrauch, Brosam, Garaus etc. in Einzelszenen vorstellt, nur blasse Schlaglichter wirft, hätte man auf den einen oder anderen kurzen Soloauftritt, besonders im langen zweiten Teil auch ganz verzichten können. So wirkt es wie das schlechte Zugeständnis an den Darstellerdrang der Akteure, die nicht nur als Masse verbraucht werden sollten. Verständlich, aber für den Zuschauer nur ermüdend. Da macht's die Masse nicht allein.

Ein zur Reflektion über die Identitätskrisen des Ich in der Masse allemal anregender Abend, ein Stück über die Manipulierbarkeit und ihre Grenzen, das mutig und einsatzfreudig die gute Tradition der Studiobühne an der FU fortsetzt, entlegene Stücke neu auszugraben. baal

Fr-So, 20.30, im SO36