: Salvador da Bahia ist kein Dorf
Zur Paul-Simon-Tournee: Interview mit Christina Rodriguez von Olodum / Olodum ist nicht nur die Trommler- gruppe von Simons letzter LP, sondern auch eine schwarze Kulturorganisation ■ Von Andreas Weiser
Wie heißt es so schön in der Berliner Dorfpostille 'Tip‘: „US-Star Paul Simon folgte dem Klang der Trommeln. Von 'Graceland‘ mitten auf einen Dorfplatz in Salvador.“ Koloniales Abenteuer im ausgehenden 20.Jahrhundert. Es ist noch möglich. Und trotz der Primitivität, der auf „einem staubigen Dorfplatz“ trommelnden Ureinwohner, die noch nicht mal ein Studio vorweisen konnten, in dem Simon das heiß begehrte Archaische aufnehmen konnte, kam dieses wunderbare Werk Rhythm of the Saints zustande. Wie weiland Fitzcaraldo eine komplette Oper, ließ Paul ein hypermodernes transportables Aufnahmestudio in die afrobrasilianische Wüstenei schleppen, um die dort aufgenommenen Urlaute später dann in New York, wie der 'Tip‘ schreibt, „auf westliche Höchststandards zu frisieren“.
Dieser „Dorfplatz“ allerdings ist das Zentrum einer brasilianischen Zweimillionenmetropole, ausgestattet mit zahllosen Radio- und Fernsehstationen, zumindest einem technisch sehr gut ausgerüsteten großen Tonstudio (wen's interessiert: das Studio WR in Rio Vermelho), Universität, Supermärkten und zahllosen Slums, wie es sich für eine moderne Metropole Lateinamerikas gehört. Die Bevölkerung aber ist fast ausschließlich schwarz — Nachfahren der hier in Salvador nach Brasilien eingeschleppten afrikanischen Sklaven. Wenn auch nicht mehr Wilde, so doch bitteschön Primitive, deren kulturelle Urgewalt wir dann stellvertretend durch Paul Simon gezähmt sehen und genießen möchten.
Der Name des gezähmten „Primitiven“, unseres „obvious child“ 91, ist „Olodum“: schwarze Trommler aus Salvador da Bahia, die ihre afrikanische Herkunft noch nicht verwunden haben. Was sich hinter dem Namen „Olodum“ versteckt, welche Weltsicht und welche Arbeit dahintersteckt, das hat uns jetzt Christina Rodriguez, 32, Chemikerin, Mutter von zwei Kindern und jetzige Finanzchefin der „grupo cultural Olodum“ im März 91 im Büro von Olodum, ganz in der Nähe jenes legendären „staubigen Dorfplatzes“ erzählt.
Andreas Weiser: Wer ist Olodum?
Christina Rodriguez: Olodum ist eine Kulturorganisation, die sich in Salvador da Bahia und ganz Brasilien auf politischem, sozialem und kulturellem Gebiet engagiert. Olodum wurde 1979 gegründet, als ein zunächst nur auf Salvador beschränkter „Bloco Afro“ [so nennen sich die schwarzen Kanevalsvereine, Anmerkung d.Red.]. 1984 dann gründeten wir die „grupo cultural Olodum“, mit mir als erster Präsidetin. Zum ersten Mal wurde mit mir eine schwarze Frau zur Präsidentin eines „Bloco Afro“ und einer Kulturvereinigung gewählt. Bis dahin hatte noch nie eine schwarze Frau an einer solch entscheidenden Position in der schwarzen Gemeinde Salvadors gesessen. Dies hat mit Sicherheit eine Veränderung im sozialen und kulturellen Leben Salvadors in Gang gesetzt.
Olodum ist eine Organisation der Leute, die hier in der Altstadt von Salvador geboren und groß geworden sind. Und deswegen war uns von Anfang an klar, daß Olodum auf keinen Fall nur ein Karnevalsverein sein kann. Der Pelourinho [durch Kolonialbauten geprägte Altstadt Salvadors, tags Touristenattraktion, nachts Zentrum von Drogenhandel und Prostitution, Anmerkung d.Red.] ist arm. Trotz allem aber ist der Pelourinho das derzeitige kulturelle Zentrum der Stadt und des ganzen Bundesstaates Bahia. Olodum ist ein Teil dieser Kultur, die sich inzwischen auch über die brasilianischen Grenzen hinaus ausbreitet.
Ganz konkret sieht die Arbeit von Olodum folgendermaßen aus: Wir geben eine Zeitung heraus, die über die Aktivitäten von Olodum, aber auch über die Welt der schwarzen Diaspora in Nord- und Südamerika sowie in Europa informiert. Darüber hinaus arbeiten wir für die Bewahrung der kulturellen und historischen Güter, die wir hier haben; setzen uns zum Beispiel für die Erhaltung und Restaurierung von historischen Gebäuden ein und kümmern uns um den Schutz der Natur in unserer Stadt und in unserem Staat. All das auch, um die Lebenssituation der noch immer diskriminierten schwarzen Bevölkerung hier vor Ort zu verbessern.
Wie macht ihr das konkret?
Wir organisieren zum Beispiel jeden Freitagabend ein Treffen, bei dem unsere Trommler und Sänger auftreten und über aktuelle Probleme diskutiert wird. Wir organisieren lockere Gesprächsrunden, Seminare und betreiben Forschung zu allem, was die schwarze Sache betrifft. Das tun wir hier zu Hause, in anderen Bundesstaaten und auch außerhalb von Brasilien.
Ihr habt auch eine Band von Jugendlichen aufgebaut. Mit welchem Ziel?
In dieser Band, die 1984 gegründet wurde, arbeiten wir mit Jugendlichen ab dem sechsten Lebensjahr zusammen, die hier geboren wurden; Jungen und Mädchen von der Straße, viele ohne Eltern. Insgesamt sind das heute 90 Kinder aus dieser Stadt — ein Projekt, das wir ohne jegliche staatliche Hilfe durchziehen. Uns geht es dabei um die Zukunft dieser Kinder. Alle können eigentlich schon irgendeine Trommel spielen. Also lernen sie bei uns nicht nur Spieltechniken kennen, sondern werden in der Geschichte dieser Trommeln und dieser Musik unterrichtet, bekommen also praktischen und theoretischen Musikunterricht.
Außerdem gibt es Unterricht in afrikanischer und brasilianischer Geschichte. Da beschäftigen sich die Kinder vor allem mit den Aufständen der schwarzen brasilianischen Sklaven. Hinzu kommt noch ein bißchen Englisch und Französisch.
Ist Afrika nicht für viele Afrobrasilianer eine Art romantische, stark verklärte Traumwelt?
Für uns Olodum ist erstmal eins völlig klar: Wir sind schwarz. Und unsere Wurzeln liegen in Afrika. Aber wir wissen, wo wir herkommen, nämlich aus Bahia, dem größten schwarzen Land außerhalb Afrikas. Uns geht es um die schwarze Sache hier in diesem Land, um Begegnungen und Austausch innerhalb der schwarzen Gemeinde. International arbeiten wir eng mit SOS-Racisme zusammen, die ja in Frankreich sehr viel machen. Wir haben gut ausgebaute internationale Kontakte.
Wart ihr schon mal in Afrika?
Einzelne von uns, sozusagen als Vertreter Olodums, als ganze Gruppe aber noch nicht. Wir hoffen, das in Kürze nachholen zu können, weil wir Afrika nicht nur aus den Erzählungen unserer afrikanischen Freunde kennenlernen möchten. Es ist uns klar, daß Afrika sich, genau wie Brasilien, entwickelt hat und weiterentwickeln wird, daß die Probleme der Schwarzen dort eben afrikanische Probleme sind und unterschieden sind von den Schwierigkeiten, mit denen sich ein europäischer oder lateinamerikanischer Schwarzer herumzuschlagen hat. Dieses Wissen geben wir weiter.
Und die Leute auf der Straße, was wissen die?
Die Informationspolitik unserer Regierungen war restriktiv. Vor allem während der Militärdiktatur gab es keine Informationen über das, was in Afrika wirklich geschah, d.h. was für revolutionäre Prozesse mit welchen Zielen in Afrika stattfanden — genauso wie wir in Brasilien lange Zeit auch nichts über die schwarzen Bewegungen in den USA erfuhren. Wir sollten nicht auf die Idee kommen, ihnen nachzueifern und uns auch organisiert zu wehren.
Wenn Olodum spielt, ist die Stimmung immer sehr aufgeheizt, es gibt viele Prügeleien, Gewalt liegt in der Luft. Woran liegt das?
Olodum ist als „Bloco Afro“ auch ein Karnevalsverein — der zur Zeit wohl populärste und berühmteste im ganzen Karneval von Salvador. Unsere Proben sind öffentlich und finden nachts auf dem Largo do Pelourinho [Platz im Pelourinho, Anmerkung d.Red.] statt. Da gibt es nachts keine öffentliche Sicherheit. Die Polizei läßt sich hier nicht blicken.
Aber vor fünf Jahren war es absolut unmöglich, sich nachts im Pelourinho aufzuhalten. Und jetzt kommt ganz Salvador jeden Sonntagabend auf den Largo do Pelourinho, um Olodum zu sehen, oder nur um sich zu treffen. Das ist ein Verdienst von Olodum. Die Gewalt ist das Ergebnis der sozialen Konflikte Brasiliens, seiner Arbeitslosigkeit. Sie ist ja nicht auf den Pelourinho beschränkt, sie ist in ganz Brasilien zu Hause. Es ist natürlich einfach für die Zeitungen, die Proben von Olodum mit Gewalt in Zusammenhang zu bringen, weil das hier, wo wir proben, arbeiten und leben, eben sowieso ein Ghetto ist. Aber viele von uns, deren Heimat hier ist, haben mit Gewalt überhaupt nichts zu tun. Olodum arbeitet für den Frieden und gegen Gewalt.
Unser Karneval ist der größte Straßenkarneval der Welt. Wer in unserem Bloco mitlaufen will, braucht ein Olodum-Kostüm — wir machen diese Kostüme selbst, die Preise liegen an der absoluten Untergrenze. Aber es gibt sehr viele Leute, die diese Preise nicht bezahlen können oder wollen. Die laufen halt hinter unserem Bloco. Und manche von denen machen Zoff, ob nun hinter unserem Zug oder wenn uns ein Trio [Laster mit Verstärkeranlage, auf dem eine Rockband spielt, zum Karneval sind etwa 50 dieser Trios unterwegs, Anmerkung d.Red.] begegnet, das ist egal. Salvador hat sich in seiner Gewalttätigkeit Rio und Sao Paulo angeglichen. In ganz Brasilien steigt die Welle der Gewalt.
Lernen die Jugendlichen bei Olodum eigentlich nur eure Kultur, wie den Samba-Reggae, oder werden sie auch mit der gesamten brasilianischen Kultur bekannt gemacht?
Sie sollen ein möglichst breites Spektrum kennenlernen. Unsere Lehrer sind zugleich die musikalischen Leiter des „Bloco Afro Olodum“. Sie machen die Kids auch mit den neuen musikalischen Entwicklungen in Afrika vertraut, vermitteln Reggae, Salsa und auch Hip Hop, Rap und Rock. Aber natürlich liegt ihre Vorliebe beim Samba-Reggae, den wir spielen.
Wie finanziert ihr euch, in einem Land, in dem es kein Geld gibt?
Wir bauen Olodum gerade zu einer Art Produktionsstätte für den Karneval aus. Das heißt, wir fertigen Kostüme, Allegorias [Thematisch geschmückte Karnevalswagen, Anmerkung d.Red.] und Instrumente, die wir in aller Welt verkaufen. Es gibt ja inzwischen Bloco Afros in der ganzen Welt, in Frankreich, England und natürlich in Brasilien, die sich für unsere Produkte interessieren. Wir hoffen, daß wir mit dieser Produktion so an die 350 Leute, Kinder und Erwachsene, beschäftigen können.
Darüber hinaus haben wir unsere „Showband“ Olodum, die bereits vier LPs aufgenommen hat, also kommerziell arbeitet. Ein Teil der Gagen, die die Band verdient, fließt ab an die Gesamtorganisation von Olodum.
Das heißt also, jedes Mitglied, das im Namen von Olodum Geld verdient, führt einen Teil dieses Geldes an die Organisation ab.
Ja, von der Gage, die zum Beispiel unsere Showband für einen Auftritt erhält, werden 50 Prozent direkt an die Musiker ausgezahlt, 30 Prozent gehen an die Gesamtorganisation und die restlichen 20 Prozent bekommen die Agenten, die die Verträge vermittelt haben.
Also seid ihr völlig unabhängig von Geldern eventueller Sponsoren aus der Industrie und der Regierung?
Ja.
Und du, als jetzige Finanzchefin, wirst von Olodum bezahlt?
Nein, die Leiter der verschiedenen Abteilungen von Olodum arbeiten ehrenamtlich. Ich bin Chemikerin und verdiene in diesem Beruf mein Geld. Meine freie Zeit widme ich Olodum.
Wieviel Stunden pro Woche arbeitest du hier?
Ich bin jeden Tag der Woche hier, nicht immer den ganzen Tag, aber doch öfter mal von morgens bis abends. Ich kann mir das leisten, weil ich selbständig bin und mein kleines Büro dann von meinem Assistenten geführt wird. Klar muß ich auch in meinem Laden arbeiten, damit's läuft, aber jede Stunde, die ich erübrigen kann, nehm' ich mir für Olodum.
Olodum — da fällt einem in Europa immer nur Paul Simon ein. Also wie war's denn nun: Hat er euch ausgebeutet oder nicht?
Paul Simon war hier am 3.März 1988 und hat eine Probe von uns aufgenommen. Wir haben kein Geld von Paul Simon genommen, er hat uns auch nichts angeboten. Es gehört zu den Prinzipien von Olodum, daß wir von den Leuten, die an uns interessiert sind und unsere Arbeit außerhalb von Brasilien bekanntmachen, nichts verlangen. Für uns ist das Kulturaustausch. Olodum lernt dabei und präsentiert sich gleichzeitig.
88 hat er das also aufgenommen. Letztes Jahr hat er wieder mit uns Kontakt aufgenommen und uns erzählt, er habe ein Arrangement von unserer Musik gemacht und würde gerne nochmal kommen, um einen Videoclip zu drehen. Er kam dann nach Salvador, zeigte uns, was er mit unserer Musik gemacht hatte, und es hat uns gefallen. Wir haben verstanden, daß er nicht versucht hat, im Idiom der schwarzen Musik zu bleiben, sondern unsere Musik benutzt hat, um seine Musik, Musik überhaupt weiterzuentwickeln. Wir von Olodum arbeiten genauso.
Olodum selbst hat für die Herstellung des Clips kein Geld bekommen, sondern nur die 19 Mitwirkenden dieses Clips, deren Bilder ja benutzt wurden.
Wieviel hat er bezahlt?
Soweit ich mich erinnere, waren das pro Person ungefähr 100.000 Cruzeiros (ca. 400 Dollar). Olodum selbst wurde von ihm an den Rechten dieses Titels (The Obvious Child) beteiligt. Darüber hinaus hat er uns nichts zugesagt, allerdings durchblicken lassen, daß er etwas für die Schule von Olodum, also etwas für die Kinder, tun wolle und vielleicht 1991 eine Show mit uns hier in Salvador machen werde, um unsere Schule zu untersützen. Vielleicht wird das im September passieren, zugesagt hat er nichts, aber Interesse geäußert.
Was also hat Olodum nun von Paul Simon gehabt?
Wir sind jetzt in der Lage, eine große Benefiz-Show für die Kinder zu organisieren, die hier geboren wurden und zu überleben versuchen. Das ist das eine. Zum anderen haben wir durch die Arbeit mit Simon sehr viele neue Kontakte und Möglichkeiten bekommen. So hat Jimmy Cliff zum Beispiel auf einem Titel unserer neuesten LP mitgewirkt, und wir sind auf seiner neuen Platte zu hören. 17 Leute von uns wurden von Paul Simon für eine TV-Show eingeladen. Es gibt Kontakte zu Stevie Wonder etc. Das ist nicht nur für uns gut, sondern für die gesamte bahianische und brasilianische Musik.
Ich bin hier geboren und aufgewachsen und habe gerade wegen meiner Herkunft aus dem Pelourinho viel Diskriminierung über mich ergehen lassen müssen. Deshalb ist es für uns so wichtig, daß jetzt Leute von außerhalb kommen und sehen, was für eine Arbeit wir hier machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen