: Ein Kindergarten aus Wellblech auf der Baustelle
Im indischen Neu-Delhi werden Kinder von „mobilen Kinderkrippen“ auf Baustellen betreut, während ihre Eltern Steine und Mörtel schleppen ■ Von Sheila Mysorekar
„Zum ersten Mal kann ich in Ruhe arbeiten“, sagt Savigat, und legt ihren sechs Monate alten Sohn auf eine Decke. „Früher hatte ich immer Angst, daß die Kinder sich auf dem Bauplatz verlaufen oder sich verletzen. Ständig ist irgendetwas passiert. Aber jetzt brauche ich mir keine Sorgen mehr zu machen.“ Savigat streichelt ihren Jüngsten noch einmal, bevor sie bei ihren beiden älteren Kindern vorbeischaut. Es ist alles in Ordnung, und so geht Savigat wieder an die Arbeit. Ihre Mittagspause ist vorbei.
Savigat ist Bauarbeiterin. In Indien ist das nichts Besonderes. 40 Prozent aller Arbeitskräfte bei Bauarbeiten sind Frauen. Die meisten von ihnen sind mit ihrer Familie vom Land in die Stadt gezogen, ohne Arbeit, ohne Unterkunft, ohne Geld. Auf dem Bau gibt es immer Gelegenheitsarbeit für ungelernte Kräfte. Familien arbeiten im allgemeinen gemeinsam dort, Frauen wie Männer. Zumindest in Neu-Delhi wird für gleiche Arbeit der gleiche Lohn gezahlt. In der Nähe jeder größeren Baustelle entsteht ein Slum, weil die ArbeiterInnen der Baustelle ihre Hütten auf oder neben dem Baugelände errichten. Als Zugezogene vom Lande haben sie keine feste Bleibe; sie ziehen von Baustelle zu Baustelle.
So auch Savigat. Sie ist 25 Jahre und kam vor drei Jahren mit ihrem Mann und drei Kindern von Bihar nach Delhi. In Bihar waren sie landlose Bauern. Schulden beim lokalen Großgrundbesitzer vertrieben sie schließlich. In der Hoffnung, dort Arbeit zu finden, gingen sie nach Delhi. Als Bauarbeiterin hat Savigat heute ihr Auskommen. Sie schleppt wie alle Frauen auf der Baustelle Ziegel und Mörtel in Körben in die oberen Stockwerke des Gebäudes. Die Frauen balancieren die Körbe auf dem Kopf, und steigen so die Gerüste aus Bambus hoch. Eine nicht ungefährliche Arbeit.
Eine Wellblechhütte als Kindergarten
Was den Frauen jedoch am meisten Sorgen bereitet, sind ihre Kinder, die sie unbeaufsichtigt auf dem Gelände zurücklassen. Immer wieder verletzen sich Kinder, fallen in Erdlöcher oder frischgegossenen Beton. Eine Schule besuchen sie nicht, denn die Familie hält sich nie lange an einem Ort auf — ist der Bau fertiggestellt, zieht sie weiter.
Doch seit Savigat auf der Großbaustelle an der Lodi Road in Neu- Delhi arbeitet, gehen ihre Kinder in den Kindergarten. Dies ist nämlich eine der Baustellen, auf denen „Mobile Creches“ (Mobile Kinderkrippen) einen Kindergarten eingerichtet hat. Eine Hütte aus Wellblech, mehr ist es nicht, wo einige Betreuerinnen die Kinder füttern, baden und mit ihnen spielen. Doch für Savigat bedeutet es, daß sie ihre Kinder in Sicherheit weiß.
Mobile Creches wurde 1969 von Frauen gegründet, die als ehrenamtliche Helferinnen arbeitenden Frauen aus Slums tagsüber die Kinder betreuten. Daraus entwickelte sich eine professionelle Organisation, mit einem Zweig in Delhi und einem in Bombay. Allein in Delhi sind es 25 mobile Kindergärten, vorwiegend auf Baustellen, die Mobile Creches eingerichtet hat. Pro Krippe gibt es mindestens fünf Kindergärtnerinnen; hinzu kommt eine Lehrerin pro 20 größeren Kindern. „Wir bieten alles“, sagt Sunita Arora, Lehrerin auf der Baustelle Lodi Road. „Die meisten Kinder, die zu uns kommen, sind unterernährt. Also bekommen sie eine Aufbaudiät. Wir impfen sie und betreuen sie ärztlich. Sie werden gebadet und gefüttert, ja, und dann haben wir natürlich ganz normale Spielgruppen, wo wir mit den Kindern malen und singen und so weiter. Die größeren bekommen eine Art informellen Schulunterricht.“ Die Großbaustelle Lodi Road existiert schon seit zwei Jahren. Mobile Creches bekam von der Bauleitung die Erlaubnis, eine Kinderkrippe einzurichten. Laut dem Gesetz „Contract Labour Act“ ist die Bauleitung eigentlich dazu verpflichtet, eine Kinderkrippe zu stellen, wenn mehr als 20 Frauen auf der Baustelle beschäftigt sind. Mobile Creches bekommt so zumindest finanzielle Unterstützung von dem Bauherrn.
Hier wird ein Hochhaus gebaut, mit Hunderten von Wohneinheiten. Die Männer mauern oder mischen den Zement. Lange Schlangen von Frauen bewegen sich die Treppen des Gebäudes hoch: Alle balancieren einen Korb mit Ziegeln und Mörtel auf dem Kopf. Savigat geht zurück zu ihrer Arbeitsgruppe. „Meine Kinder sind in guten Händen“, meint sie. „Ich bin nicht mehr den ganzen Tag angespannt, weil den Kindern etwas passieren könnte, während ich weg bin.“ Sie zieht das Ende ihres gelben Sari über den Kopf, um sich vor der brennenden Sonne zu schützen. Auch bei der Arbeit trägt sie bunte Armreifen aus Glas und Golddraht, wie alle indischen Frauen, auch die ärmsten. Sie wuchtet sich einen Korb mit Ziegeln auf den Kopf. Die Nachmittagsschicht hat begonnen.
„Wir sind politisch in dem, was wir tun“
Die Wellblechhütte, in der die Kinderkrippe untergebracht ist, wird im Lauf des Tages unerträglich heiß. Die Wiegen mit den kleinsten Kindern werden vor einen großen Ventilator gestellt. Hier sind über 20 Säuglinge untergebracht, der jüngste von ihnen ist zehn Tage alt.
Ungefähr 15 ältere Kinder sind im Nebenraum. Eins von ihnen ist Shankar, zehn Jahre alt. Er kam mit seinem Onkel aus einem Dorf in Bihar und ist noch neu in Delhi. „Mobile Creches ist wie die Schule in unserem Dorf“, erzählt er. „Weil mein Onkel auf der Baustelle arbeitet, bin ich tagsüber hier. Mit gefällt es gut.“ Shankar hat Glück gehabt. Andere Kinder in seinem Alter müssen arbeiten gehen, damit ihre Familie überleben kann, oder sie müssen zumindest auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen.
„Wir ermöglichen es diesen Kindern, ihre Kindheit zu leben“, sagt Brinda Singh, die Leiterin von Mobile Creches. „Viele dieser Kinder sind für den Haushalt verantwortlich, obwohl sie nicht älter als fünf oder sechs Jahre sind. Sie kochen, holen Wasser, sammeln Feuerholz und passen auf ihre Geschwister auf. Bei Mobile Creches haben sie Gelegenheit, ihre Fähigkeit zu entwickeln, einfach, weil sie nicht alle Verantwortung tragen müssen.“ Brinda Singh nennt die Straßenkinder die ,unsichtbaren' Kinder, diejenigen, die niemand bemerken will. „Wenn wir es schaffen, diesen Kindern durch gezielte Forderung das Gefühl zu geben, daß sie als Person wichtig sind, ist das schon viel. Aber unser Geld reicht natürlich nicht weit. Wir bekommen Unterstützung von privaten Spendern und ausländischen Hilfsorganisationen, auch eine Kleinigkeit von der Regierung. Das reicht leider nicht aus, um zu expandieren.“ Mobile Creches ist keine gewinnorientierte Organisation. Die Leistungen sind kostenlos, Essen und Medikamente werden von Mobile Creches gestellt. Dazu kommen die Gehälter für die Angestellten. „Wir sind politisch in dem, was wir tun“, sagt Mrs. Singh. „Aber parteipolitisch sind wir nicht gebunden. Wir würden es auch vorziehen, ohne ausländische Finanzierung das Projekt am Laufen zu halten, aber bis jetzt sind wir noch darauf angewiesen. Und letztendlich denke ich, wir sind alle gemeinsam für die Kinder dieses Planeten verantwortlich.“
„Anfangs gab es viele Schwierigkeiten mit den Bauleitern“, erzählt Ms. Singh. „Jetzt haben sie gemerkt, daß die Produktivität erhöht wird, wenn die Frauen nicht während der Arbeit auch noch auf die Kinder aufpassen müssen. Dieses Argument bringen wir bei jeder neuen Baustelle vor; das überzeugt auch den geizigsten Bauherrn!“ Mobile Creches geht keinen Konfrontationskurs. Aber das Projekt hat ein ganz konkretes Ziel, und es bringt den Betroffenen einen klaren Nutzen. Solange Savigat auf der Großbaustelle Lodi Road arbeitet, können ihre Kinder in die Kinderkrippe gehen. Eine Verbesserung im kleinsten Rahmen.
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