Jugoslawische Armee außer Rand und Band

Die Politik kann die jugoslawischen Streitkräfte nicht mehr kontrollieren/ Das serbische Offizierskorps hat sich offenbar durchgesetzt  ■ Aus Ljubljana Erich Rathfelder

Jetzt wird die Lage in und um Slowenien wirklich ernst, wenn sie es nicht schon vorher war. Die jugoslawische Volksarmee ist außer Rand und Band geraten. Keine politische Instanz des Vielvölkerstaates ist mehr in der Lage, die Armee zu kontrollieren. Dieser Umstand wurde vor allem durch den Besuch des Staatspräsidenten Stipe Mesic am Dienstag abend in Ljubljana dokumentiert, als er eingestehen mußte, daß er, der formell Oberbefehlshaber der Armee ist, keinerlei Macht hat, die Generalität in ihren Entscheidungen zu beeinflussen. Vom Ministerpräsidenten Markovic, der in den letzten Tagen um Jahre gealtert scheint, ist seit Tagen nichts mehr zu hören. Das Kartenhaus der jugoslawischen Institutionen ist zusammengebrochen. Es erscheint sogar fraglich, ob der bisherige Verteidigungsminister, General Kadijevic, noch Abmachungen einhalten kann. Mit der Übernahme der Befehlsgewalt der 5. Armee, die in Zagreb stationiert und für Slowenien zuständig ist, wurde mit General Avramovic ein serbischer Nationalist bestimmt, der sich im Kosovo seine Meriten erwarb. Der bisherige Befehlshaber dieser Region, der Slowene Konrad Kolsek, wurde ausgebootet. Welchen Einfluß der slowenische Admiral Brovet, der auch Vizeverteidigungsminister ist, noch hat, ist dahingestellt. Es scheint, als hätte sich das serbische Offizierskorps durchgesetzt. Für diese Annahme spricht auch, daß mit der Einberufung von 200.000 serbischen Reservisten auch die kämpfenden Einheiten homogenisiert werden sollen.

Eine riesige Kolonne von Panzern und Mannschaftswagen hat sich gestern vormittag von Belgrad aus in Richtung Norden in Bewegung gesetzt. Beim besten Willen und auch der höchsten Opferbereitschaft ist diese Streitmacht weder von der kroatischen noch von der slowenischen Bevölkerung zu stoppen. Ein bißchen Enttäuschung macht sich in Slowenien über die Haltung der kroatischen Regierung breit, sprich wie sie auch der slowenische Informationsminister Kocin bei seiner gestern stattfindenden Pressekonferenz ausdrückte — die nicht Willens ist, ihre Territorialeinheiten und Milizionäre gegen die Übermacht aus dem Süden aufzubieten. Kroatien habe nicht einmal, wie dies Bosnien und Mazedonien getan haben, die Rekruten ihrer Nationalität zur Rückkehr aufgefordert. In einem Brief an den slowenischen Innenminister Igor Bavcar hat die muslimanische demokratische Partei Bosniens gestern sogar angeboten, Tausende muslimanische Freiwillige zu schicken, um die slowenische Freiheit zu verteidigen. Ein ähnliches Angebot liegt von den mazedonischen Nationalisten vor. Der kroatische Präsident Tudman dagegen, und das zeigt auch die Wahl des Kroaten Mesic zum Staatspräsidenten, will noch nicht alle Brücken zum Gesamtstaat abbrechen.

Unter dem Gesichtspunkt der serbischen Machtübernahme im Militär erscheint die Rede von Generalstabschef Adzic, die er am Dienstag abend im Fernsehen gehalten hat und in der er den alten Korpsgeist der titoistischen Gedankenwelt zum Ausdruck brachte, fast schon anachronistisch. Danach hätte die Armee nur im Sinne der Integrität des Landes gehandelt. „Erzogen im Geist des Jugoslawientums, können wir soviel Schlechtigkeit nicht verstehen“, erklärte der General im Hinblick auf den slowenischen Widerstand, und er wies darauf hin, daß die Verräter aus Slowenien in den eigenen Reihen ausgeschaltet seien. Bisher, das zeigen jetzt die Rücktritte, waren alle in Jugoslawien anerkannten Nationalitäten im Offizierskorps vertreten. Das Interesse der Armee war nach Titos Tod 1980 vor allem darauf gerichtet, die Integrität des Staates und des „Sozialismus“ zu bewahren, was natürlich vor allem hieß, die Armee als Institution über die sich wandelnden Zeiten in ihrer Existenz zu erhalten.

In einem Plan, dem „Bedem- Plan“, der seit Monaten in der Armee kursiert, wird der Niedergang des Kommunismus als Offensive der Nato interpretiert, die sich jetzt weigere „die sozialistische Orientierung der Führung Serbiens und Montenegros zu akzeptieren“. Von Österreich und Italien aus würde ein Angriff gegen Jugoslawien vorbereitet. Eine These übrigens, die den Soldaten der Volksarmee bei ihrem Vorgehen in Slowenien eingebleut, aber trotz der Nachrichtensperre von den Soldaten nicht ganz geglaubt wurde, was die hohe Zahl der Überläufer beweist. Welche Spannungen trotz dieser gemeinsamen Traditionen im Generalstab herrschen müssen, zeigt der Umstand, daß dies von Adzic am Ende seiner Rede angekündigte Rede von Verteidigungsminister Veljko Kadijevic bisher nicht zustande kam. Bei der Aktion der Armee handelt es sich also um ein letztes Aufbäumen einer Kaste, die ähnlich dem Militär im nachfranquistischen Spanien ihren Funktionsverlust nicht hinzunehmen bereit ist und sich als fähig erweist, beim eigenen Untergang das gesamte Land in den Abgrund zu reißen. Die Verantwortung für die Vernichtung der moralischen Dimension, das heißt dem Niedergang der ursprünglichen Werte der antifaschistischen Partisanenarmee, wird auch nicht durch die Tatsache verwischt, daß die Armee in der Entwicklung der letzten Tage von serbisch-nationalistischen Interessen überlagert wird. Mit dem Beginn der Militäraktion ist unwiderbringlich ein jugoslawischer Mythos zerstört worden.