Arbeitsmarkt: Keine Wende im Osten

Zahl der Arbeitslosen in der Ex-DDR stieg gegenüber dem Vormonat nur um 219/ Höhepunkt der Arbeitslosigkeit im Osten noch nicht erreicht/ Frauen werden zuerst entlassen: Höchststand 57,3 Prozent  ■ Aus Nürnberg Bernd Siegler

Mit einer überraschenden Meldung konnte Heinrich Franke, Präsident der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit (BA), bei der Bekanntgabe der neuesten Arbeitslosenzahlen aufwarten: In der ehemaligen DDR ist die Zahl der Arbeitslosen im Vergleich zum Vormonat um ganze 219 gestiegen. 842.504 Menschen sind dort arbeitslos gemeldet, die Quote liegt damit unverändert bei 9,5 Prozent. In den alten Bundesländern nahm die Zahl der Arbeitslosen um 11.100 ab, die Quote sank gegenüber Mai von 5,4 auf 5,3 Prozent (bezogen auf alle zivilen Erwerbspersonen).

Allzu voreilige Erwartungen, daß man aus diesem Ergebnis bereits auf eine beginnende Wende am östlichen Arbeitsmarkt schließen könne, versuchte Franke zu entkräften. „Der Höhepunkt der Arbeitslosigkeit ist bei weitem nicht erreicht“, kritisierte der BA-Präsident die allzu optimistischen Prognosen. „Wenn die Talsohle der Wirtschaft bis Ende dieses Jahres erreicht sein sollte, dann ist sie für den Arbeitsmarkt frühestens Mitte 1992 erreicht.“ Bis dahin erwartet Franke noch einen kräftigen Anstieg der Arbeitslosenzahlen. Bei der Vorlage der aktuellen Statistik kam ihm zugute, daß der angekündigte Schub der Entlassungen zum Stichtag 30.6. 1991 sich in den Juni- Zahlen noch nicht niederschlägt. Wie groß die Entlassungswelle, ausgelöst durch das Auslaufen der Kündigungsschutzabkommen in der Metall- und Elektroindustrie sowie das Ende der sogenannten Warteschleife im öffentlichen Dienst, wirklich ist, wagt Heinrich Franke nicht zu prognostizieren.

So hätten allein die Betriebe der Treuhandanstalt zum 30. Juni 350.000 Entlassungen angekündigt. Derzeit sind bereits 770.000 Menschen bei den Arbeitsämtern im Osten arbeitssuchend gemeldet, ohne arbeitslos zu sein. Sie werden bei den Ämtern vorstellig, weil ihnen bereits gekündigt worden ist oder sie konkret mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes rechnen. Auch der Rückgang der Kurzarbeiterzahlen im Juni um 60.000 auf gut 1,9 Millionen hat wenig Aussagekraft, weil gleichzeitig die Dauer der Kurzarbeit und das Ausmaß des Arbeitsausfalls von Monat zu Monat steigen. Während Männer eher auf Kurzarbeit gesetzt werden, werden Frauen gleich entlassen. Immer dramatischer wird für sie die Situation auf dem östlichen Arbeitsmarkt. Der Anteil der Frauen an den Arbeitslosen erreichte einen neuen Höchststand von 57,3 Prozent. Im ersten Halbjahr 1991 hat die Arbeitslosigkeit der Frauen um 37 Prozent zugenommen, die der Männer nur um 24Prozent.

Monat für Monat rühmt Heinrich Franke seine Behörde als „die einzig funktionierende im Beitrittsgebiet“. 20.000 Arbeitsamtsmitarbeiter, unterstützt von 1.600 Wessis, würden „hervorragende Arbeit“ leisten. So hätte sich aufgrund arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen die Arbeitslosigkeit im Juni um 90.000 reduziert. Ende Juni waren 148.200 Personen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschäftigt.

Zusammen mit derzeit 350.000 täglichen Pendlern von Ost nach West entlasten die 366.700 Bezieher von Vorruhestandsgeld und 144.000 Beziehern von Altersübergangsgeld den Arbeitsmarkt in der Ex-DDR um 850.000 Menschen.

Franke nutzte den Monatsbericht zu einem dringenden Appell an die Betriebe, Lehrstellen zu schaffen. „Es wäre fatal, wenn die Betriebe über den Sorgen der Gegenwart die Chancen der Zukunft versäumten“, betonte der BA-Chef. Insgesamt waren den Arbeitsämtern im Osten noch 64.000 Schulabgänger ohne Lehrstelle gemeldet.

In Westdeutschland expandierte die Beschäftigung weiterhin kräftig. Nach vorläufigen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden nahm die Zahl der Erwerbstätigen von April auf Mai saisonbereinigt um 50.000 zu.