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Fünf Meter Morast

Roskilde '91 fand im Regen statt  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Zwischen einem Zelt, in dem verschiedene Aktionsgruppen eine Art Geisterbahndschungel aufgebaut haben, um gegen die Vernichtung des Regenwalds zu protestieren, einem anderen, in dem Coming-out-Gespräche für SadomasochistInnen angeboten werden, zwischen Sonnenbrillen-, Mützen-, T-Shirt-, Platten-, Bierständen und den drei Musikbühnen bewegen sich Gruppen; nebeneinander, hintereinander, Hand in Hand, mit den Händen auf den Schultern des Vordermanns oder der Vorderfrau oder in gebührendem Abstand. Im Regen und im Bad der Menge schüttelt Gorbatschow Hände. Der Papst trägt glitzernde Pornobilder übers Gelände und — im Gleichschritt pfeifend und trommelnd — zieht eine örtliche blau/weiß uniformierte Mädchen-Kapelle vorbei, flankiert von Männern, die nur ein Unterhöschen unter ihrem Regenmantel tragen. Drei Polizisten umstellen einen Bauchladenverkäufer und kaufen Eis. Ein paar nackte Theatermänner posieren auf einem LKW. Und das Publikum vor der Bühne schart sich um die unterschiedlichsten Fahnen. Die helfen, Standort und Herkunft zu bestimmen: „Super, Hamburg/St. Pauli.“ Die Mannschaft verliert woanders. Einige Fahnen versinken im Schlamm.

Roskilde '91: 65.000 Viertagetickets wurden verkauft; die Hälfte der Besucher kam aus Dänemark, 15.000 kamen aus Schweden, 12.000 aus Deutschland. Der Rest kam von woanders her. 9.000 freiwillige Helfer, ein paar dänische Dichter, Theaterleute und ein Pressehubschrauber. Neunzig Bands waren rund um die Uhr im Einsatz. Trotz katastrophaler Wetterbedingungen war Roskilde wohl auch in seinem 21. Jahr das größte europäische Rockfestival. Das liegt nicht nur an den sogenannten „Crowdpullers“ wie Paul Simon, Iron Maiden oder Billy Idol, die man sich diesen Sommer nicht nur im festivalverwöhnten Dänemark anschauen kann. Im Gegensatz zu kommerziellen Festivals lebt Roskilde vom eigenen Mythos, der das Publikum zahlreicher und immer jünger werden läßt. Das Durchschnittsalter lag im letzten Jahr bei knapp 22 Jahren. Kiffen tun die wie ihre Eltern — das Haschrauchen scheint inzwischen wieder in allen Teilen und Altersgruppen der Gesellschaft beliebt zu sein.

Drei Generationen stehen nebeneinander und vermischen sich nur selten. Die müden Älteren, die sich nicht auf den Boden setzen möchten, kaufen kleine hölzerne Klappstühlchen; die Jüngeren tragen hemmungslos die Hippieklamotten ihrer Großeltern. Die mittlere Elterngeneration posiert im schwarzen Punkoutfit und alle kriegen ihre Stars.

Lied der Generationen

Die Großeltern freuen sich über Gianna Nannini und ihre eher peinliche, fürs Fernsehen zusammengeklatschte Version von Me an Bobbie McGee oder werden ein bißchen melancholisch, wenn sie Marianne Faithfull im weißgestärkten Kostüm lauschen; sie begeistern sich an den etwas langsamer gewordenen, endlosen West-Coast-Gitarrenschleifen der Allman Brothers und denken zurück an Zeiten, als Schweineorgeln noch als Musikinstrumente galten, während Greg Allman für die Kamera, die ihn verfolgt, die Arme hochreißt, um sie wieder zurücksinken zu lassen, wenn die Kamera wegguckt. Besonders freuen sich die Musiker in der Lebensmitte an ihren langen schönen Haaren: Der Stolz der Jahre splißt nicht und wirft keine Schuppen. Der perfekte West-Coast-Sound würde am besten zu Haarföhn- oder Shampooreklamen passen.

Debbie Harry, Billy Idol, Iggy Pop und Elvis Costello spielen für die mittlere Generation und die Jüngeren tanzen bis tief in die Nacht im „Club Roskilde“ zu House, HipHop und bunt-psychedelischen Videoinstallationen. Wenig Scheinwerferlicht nur wird für die Klangmaschinisten auf der Bühne verschwendet, umso mehr für die Tanzenden: 808 State oder The Orb. Nur die HipHopper von Stereo Mc oder die Gang Stars standen im Licht.

Ethno

Herbert Grönemeyer oder „Hip- Herbert“, wie er im Programm angekündigt war, vermischte nichts und verwechselte alles. In Dänemark wähnte er sich vor einem internationalen Publikum, doch es waren nur Deutsche, die seinen Heimatklängen lauschten. Rührend waren ein paar Heavy Metal Fans, die in „Slaughter House“-T-Shirts begeistert mitsangen: „Gebt die Welt in Kinnahände“. Die anderen dagegen reagierten mit Unverständnis auf Herberts provinziell-exotische Lieder, obgleich der kleine hampelnde schwitzende Mann „Guten Tag“ und „Hallo“ auf dänisch sagen konnte und jeden Song in englisch ankündigte: „The next song is about the charme of our chancellor.“

Ein dicker Deutscher wackelt schwerbetrunken ins Zentrum des Ethno-Pops und Haschrauchens, ins weiße Zelt. Auf seinem Plastikhenkelmann, in dem das Bier wartet, klebt ein Aufkleber: „Alkohol? — Bin ich bescheuert!“ Ein dummdreist blickender Blondschopf mit Knollennase illustriert das staatlich vertriebene Abziehbild. Es gleicht dem Dicken aufs Haar.

Statt nach eigenen Wurzeln zu suchen, integriert Paul Simon einige (hervorragende) afrikanische Musiker als exotische Apercus in einen ansonsten seichten weißen Mittelklassen-Pop. Andere entdecken das wirklich Authentische im sehnsüchtig-rhythmischen Wechselgesang von Mzakhe Mbuli & the Equals aus Südafrika oder beim eher jazzrockigen Afrika-Mitmach-Pop von Femi Anikulapo Kuti (dem Sohn des Vaters) & Positive Force. Die Babylon Fighters aus Frankreich vermischten als beste Tanzkapelle des Festivals Heavy Metal, Reggae und HipHop zur schönsten Party und Les Têtes Brulées aus Kamerun ironisierten auf der Bühne fußballspielend, in Kriegsbemalung und zerfetzten City Bags, die Vorstellung, die der Europäer von Afrika haben mag.

Battle of Bands

Als Rock'n Roller, Punk- oder Glamourstars der Achtziger spielen Iggy Pop, Billy Idol, Iron Maiden und Glenn Danzig zumindest in der verregneten Erinnerung gegeneinander. Iron Maiden verdienten redlich ihr Geld als etwas grobschlächtige, doch gutmütige Heavy Metaller. Iggy Pop gibt keine Interviews; der 44jährige redet stattdessen während seines Auftritts ständig vom „Home“, relativiert seine alten Masohits in langwierigen Ankündigungen — dies sei ein Song darüber, daß es einem ganz schlecht geht („Now I wanna be your dog“) — ist bemüht, in jeden Satz ein „fucking“ unterzubringen, animiert das Publikum bei „Passenger“ zum Mitsingen (und jetzt alle!) und endet mit einer eher kläglichen Version von Jimi Hendrix' Foxy Lady. All das, was einmal beunruhigend und deshalb großartig gewesen war, ist längst vergangen. Das einzige auch, was an Billy Idol beunruhigte, war der Platzregen, der den perfekten Auftritt des Glamourstars begleitete. Tougher als Iggy Pop zog er sich im Regen sein Jäckchen jedenfalls nicht wieder schnell an. L.A. Woman als Zugabe war nur eine saubere Kopie des Doors-Titels. Wilder Rock ist nicht mehr möglich, so denkt man traurig, doch dann kommt Danzig. Die amerikanische Band ist härter als jeder Heavy Metal Act, der Schlagzeuger ist genial und der Sänger, Glenn Danzig, der mit 17 bei den „Misfits“ schon klang, als hätte er sehr lange sehr viel getrunken, ist der einzige Rockstar, dem man die Mann-Tier-Pose im kalten Scheinwerferlicht abnimmt. Er klingt wie Jim Morrison, ohne ihn zu kopieren: In einer Zeit, in der ekstatische Rockposen eigentlich unmöglich sind, singt er die Hymne der 90er Jahre: Blood & Tears. Eigentlich geht es bei Danzig nicht um Überschreitung oder Ekstase, sondern um pure Energie, die live nicht nur begeisternd, sondern mindestens so beunruhigend ist, wie die Auftritte der Einstürzenden Neubauten vor zehn Jahren. In Amerika hat Danzig wie einige andere Heavy-Metal-Musiker Probleme wegen Satansverherrlichung.

Ein Berliner Pärchen beschwert sich auf dem Pressegelände, etwas erbost darüber, daß es an der Grenze „voll“ kontrolliert worden sei. Die „blöden“ Grenzbeamten hätten allerdings nichts gefunden, triumphieren sie, um im nächstem Satz die „ungeheuer großen Aschenbecher“ auf der Fähre zwischen Warnemünde und Gedser zu loben. Die Polizei beschlagnahmte in Roskilde ungefähr 400 Gramm Hasch; berühmt ist das Festival jedoch vor allem für seine Trinksitten. Hier zeigt sich kein oktoberfesttumbes oder punkmäßig verzweifeltes, sondern ein in der Frischluft des Tages doch sehr entschlossenes, oder morgens im Mitarbeiterzelt sehr arbeitsames Trinken, das lächerlich wenig Opfer forderte. Genau 600 mal wurde die Erste Hilfe aktiv; 15 Personen mußten kurzzeitig in's Hospital. 80-90 Personen wurden kurzzeitig inhaftiert; die Hälfte wegen böser Agressionen, die anderen wegen Drogen.

Regen

Während Debbie Harry, Iggy Pop und Billy Idol spielten, drückte sich die Menge aneinander, um nicht in die kleinen Seen zu fallen, die sich vor der Bühne gebildet hatten. Dort tobten Pogo-Schlammschlachten. Hundert Zelte versanken im Morast. Die Stimmung litt kaum darunter; die Veranstalter verkauften ein paar Tausend Gummistiefel und 10.000 Tennissocken, und gaben ungefähr 170.000 Mark aus, um (in Zusammenarbeit mit der Armee) Holzsplitter über den Platz zu streuen, Planen über die Sümpfe zu breiten, Brücken zu bauen für die, die — stolz auf ihre schlammkrustige Kleidung und raffinierte Plastiktütengamaschen — im nordischen Sturm über den Platz trotteten. Nur ein paar scheue Fotografen überlegten sich lange, ob sie die fünf Meter Morast hinter der Bühne wirklich durchqueren müßten.

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