: Die Avantgarde fährt Rad
Beikomanie pur beherrscht die Szene und macht das Fahrrad zum neuen Statussymbol. Wer einst autonom sagte, muß sich nun beikonom verhalten, Radel verpflichtet schließlich. Vor allem in Berlin-Kreuzberg. Doch die Todfeinde des Radlers sind noch in der Übermacht, und das läßt völlig neue Frontstellungen in der Hauptstadt erwarten. ■ VON PHILIPPE ANDRÉ
Vor drei Jahren hatte ich erstmals den Wunsch verspürt, auch eines dieser tollen und unverwüstlichen Teile zu besitzen, mit denen man ja nicht mehr fährt, sondern mehr gleitet, schwebt. Er keimte unweigerlich in mir auf, als meine Kollegen auf unserem Betriebssporttrainingsplatz im Weddinger Humboldthain mit ihren reinrassigen Mauntn- und Touringrädern grundsätzlich vor mir da waren. Obwohl sie den Betrieb nach mir verlassen hatten. Wie oft sah ich sie flott an mir vorbeizischen, während ich in meinem Wagen nicht vom Fleck kam.
Vor allem anderen hatte mich beeindruckt, daß auch noch das morscheste menschliche Wrack auf diesen scharfen Dingern den Eindruck von drahtiger Sportlichkeit und kräftiger Frische vermittelte. Das wollte ich auch.
Natürlich war mir klar: So durfte ich keinesfalls argumentieren. Bei unserer angespannten Haushaltssituation wären am Ende allenfalls ein Paar Turnschuhe herausgekommen.
So schob ich denn den anderen Aspekt — den ökologisch-metropolitanen Gesichtspunkt — in den Vordergrund; und hatte überraschend leichtes Spiel. Die natürliche Gegenwehr meiner Familie — „wozu brauchst du denn ein Mauntn, du könntest dich doch nicht mal auf einem Roller halten“ — erschöpfte sich in ein paar unverschämten Äußerungen in bezug auf meine körperliche Konstitution. Mit dem Versprechen, mich künftig „wieder mehr um den Sport“ zu kümmern, wischte ich diese Problematik vom Tisch, konterte jedoch weiterhin hartnäckig mit der Ökofrage. Auf Dauer kann sich dem einfach niemand mehr verschließen.
Kein Wunder! Schließlich sind deutsche Städter des Automobils durchaus überdrüssig. Nach einer von der Umweltorganisation Greenpeace in Auftrag gegebenen Emnid- Umfrage wollen mehr als die Hälfte aller Bürger in den alten Bundesländern eine gänzlich „autofreie Innenstadt“, imponierende 85 Prozent möchten den Verkehr mit den ollen Asphaltblasen immerhin „erheblich eingeschränkt“ sehen. Und zwar nicht nur den ozon-smogigen Sommer über, wie unser Umweltminister Töpfer dies vorschlägt.
Das riecht doch nach genau dem Frischwasser, in dem der revolutionäre Hecht auch bei uns endlich wieder schwimmen kann, nachdem das realsozialistische Brackwasser schlichtweg verdunstet ist? Da bahnt sich doch Bewegung an. Wer einst Autonom sagte, muß der sich nun nicht Beikonom verhalten? Radel verpflichtet doch!
Obwohl die Dinger in den letzten Jahren — rein preislich gesehen — durchaus in die Nähe von besseren Gebrauchtwagen gerückt sind. Denn mit der allgemeinen Abscheu vor den tausendarmigen, endlos stinkenden Blechkonvoluten in unseren Städten wuchs auch die Bereitschaft der geplagten Menschen, jeden Preis für die geräusch- und geruchlosen Zweiräder zu zahlen.
Also bekam auch ich endlich mein Traumrad. Und alle Probleme, die damit zusammenhängen.
So vieles hatte ich nicht bedacht. Zwar war mir schon die ganze Zeit aufgefallen, daß man in Berlin — und nur dort — Renn- und Mauntnbeiks stets fahren, nie jedoch irgendwo stehen sieht. Doch nun kenne ich auch den Grund für diesen bizarren Sachverhalt. Die Freaks müssen ihren Untersatz durchweg bei sich tragen wie andere ihre Autoschlüssel, um ihn auch behalten zu können. Lassen sie den dickbeinigen Drahtesel irgendwo stehen, unerheblich ob verschlossen oder nicht, gehört er bald schon einem anderen. Bis dieser ihn mal stehen läßt; und so fort. Da der erste in der Kette der Besitzer auch derjenige ist, der sich über den Verlust ärgert, ist er dem blöden Ding auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Letztens hatte ich beispielsweise einen dringenden Arzttermin in einer der dunkleren Gegenden Kreuzbergs. Gegen sieben Uhr morgens schaltete ich wie üblich das Radio auf 100,6, weil nur dort der „besondere Verkehrsservice“ für die Hauptstadt ausgestrahlt wird. Mit mehreren „eigenen Reportagewagen“ stehen die seltsamen Jungs vom Funk für uns im capitalen Dauerstau und informieren die Berliner Bevölkerung — was für ein Job — über Schlangen, Stop and Goes und zähflüssigen Verkehr.
Ich also aufs Rad und los. Und wie ich mit dem Ding über der Schulter in die Praxis marschiere, faucht mich die resolute Rezeptionsschwester doch an die Grenze zur Sprachlosigkeit. „Das nächste mal bringt so'n Heini seinen Trabi mit hoch“, höre ich noch, während ich behende wie einst Rudi Altig die vier Treppen wieder hinunterhüpfe und mich flugs Richtung Hof orientiere.
Auf keinen Fall durfte ich auf die offene Straße zurück. Bei der Herfahrt waren mir auf den letzten hundert Metern mindestens drei besitzhungrige Augenpaare begegnet. Bedürftige, die wahrscheinlich nur darauf warteten, daß so ein Greenhorn sein brandneues Superteil ausgerechnet in ihrem Kiez abstellt. Von Ex-Besitzern hatte ich überdies erfahren, es gäbe da in Berlin zwei, drei zwielichtige Firmen, die jene Kleinode per Lastwagen einsammeln, um sie dann in Einzelteilen weiterzuverkaufen.
Nicht mit mir! Zehn Minuten später hatte ich einen passablen Abstellplatz ausgemacht und routiniert meine drei ABUS-Granit-Schlösser (Einzelpreis: 79.- DM) so geschickt um das Gestänge gelegt, daß man hätte allenfalls noch die Klingel abschrauben können. Nachdem ich dann noch Vorderrad, Schutzblech und Luftpumpe abmontiert hatte, war ich zufrieden. Schnell stellte ich ein paar herummodernde große Pappkartons davor und strebte sodann rasch meinem dentalen Schicksal entgegen.
Zwei Stunden und Spritzen später verließ ich benommen und schief grinsend die Praxis. Noch war ich schmerzfrei. Also torkelte ich, in der einen Hand ein Vorderrad, in der anderen Luftpumpe und Schutzblech, Richtung Heimat. Zunächst dachte ich nur, die Leute reagierten auf mein blödes Grinsen, erwiderten es freundlich — wie die Kreuzberger eben so sind. Doch hatten sich ihre stechenden Blicke, in denen so etwas wie der Hauch einer Anerkennung mitzuschwingen schien, auf das geheftet, was ich offensichtlich wie eine Beute mit mir führte.
Mein Rad! Ich hatte dieses dämliche Ding dort stehen lassen. Mir war der zweitgrößte vorstellbare Fehler unterlaufen, den man in Kreuzberg begehen kann. Schon sah ich in Gedanken, wie sich dunkle Gestalten an meinem Schatz zu schaffen machten, schraubten, hämmerten und — oh Gott — auf ihn einschlugen.
Als die Schmerzen nach ein paar Tagen nachließen, konnte ich mich an Ort und Stelle vom Wahrheitsgehalt meiner bösen Vorahnung überzeugen. Bis auf die Klingel fehlte nichts. Nicht mal Säge- oder Kneifspuren waren zu erkennen. Glücklich schulterte ich das Gerippe und wollte die Häuserschlucht schnell verlassen. Da erschien eine mollige türkische Frau in einer der hinteren schwarzen Maueröffnungen. Langsam schritt sie auf mich zu. Ich grüßte freundlich. Sie lächelte zurück und wies mit einem kurzen Kopfnicken auf mein fehlendes Frontrad: „Viel klauen hier“, sagte sie mitleidig, „Fahrrad immer mitnehme, weis du.“ „Oh ja“, bestätigte ich ihre Rede, nickte und lächelte etwas unsicher. Dann ging ich gemächlich zur U-Bahn. Kürzere Strecken erledige ich seitdem übrigens zu Fuß.
Und dennoch: Kreuzberger Alternative besitzen zwar oft ein Automobil. In der Regel aber wird es dazu benutzt, die wenigen Parkplätze ausdauernd vor Touristen und Konsumossis zu verteidigen, ansonsten jedoch mit dem Rad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Während letztere nur eine Klasse aufweisen und — noch — erschwinglich sind, ist das moderne Citybeik nicht nur hundsteuer, sondern zunehmend Ursache und Herd liebenswerter neurotischer Zwangshandlungen. Sogar die revolutionäre Ökolinke kommt nicht ohne die Befriedigung des nagenden Bedürfnisses über die holprigen Runden des alternativen Lebens, auch mal zeigen zu können, daß man schließlich „nicht irgendwas“ fährt. Man ist ja auch nicht irgendwer!
War der Kreuzberger Szenearistokrat in alten Frontstadtzeiten an der Qualität seiner gekonnt zerschlissenen Lederjacke zu erkennen, ein Wirrtuose des Understatements gleichsam, so ist diese als Statussymbol nunmehr giga-out.
Denn noch der allerschrägste Kiezvogel kann einem hier mittlerweile wie selbstverständlich auf einem 1.500.— DM teuren Mauntn- oder Hyper-Crossrad mit Shimano- Bremsanlage und zwanzig butterweichen Präzisionsgängen begegnen. Beikomanie pur beherrscht das Viertel, und zieht jeden und jede in seinen Bann. So nehmen auch die Szenefrauen allmählich Abstand vom traditionellen Hollandrad und begeben sich zunehmend auf die oft anarchoschwarz lackierten Flitzer.
Sicher, es gibt auch sogenannte „Blender“. Was beim Auto einst der Opel Manta, ist hier das umgebaute schwerfällige Mao-Rad aus den frühen Siebzigern, mit dem sich manche 68er-Turnschuh-Senioren frech in die Bewegung einschleichen wollen. Doch erkennt man den Unterschied sofort und verstohlen weicht das betrügerische Auge dem festen Blick des Erkennenden aus.
Was die Beikmode angeht, gibt es, abgesehen von der Grundregel Schwarz, die ganze Palette militanter Haute-Couture-Phantasien zu bewundern. Vorherrschend sind allerdings legere Rot- und Graukombinationen, die den gewollten Bohèmetouch angenehm variieren. Stoffwechsel werden im allgemeinen nur zwischen Leder und Leinen vorgenommen. Persönlich bevorzuge ich ja die Seeräuberkluft mit Korsaren-Kopftuch, knallengen Jute-Leggins und mutiger Augenbinde. Die Damen überzeugen dagegen immer wieder mit dem Modell „Citybarbarella“: Hohe Wildlederstiefel (abgewetzt), schwarze Nylons und superkurze hot pants unter der schweren Büffellederjacke. Wirklich todchick.
Gut ausgerüsteten und erfahrenen Profis steht mit dem Ostteil der Stadt übrigens eine ebenso gigantische wie mörderische Teststrecke zur Verfügung, die unversehens zu einem größeren Abenteuer werden kann. Eine Fahrt vom grauen Wedding quer durch den Osten nach Kreuzberg zum Beispiel wird in Kennerkreisen gemeinhin als „Plombenkiller“ bezeichnet, ein Abstecher Richtung Prenzlauer Berg schon als „Parkinson-Strecke“ und der Ausflug nach Köpenick gilt gar als Himmelfahrtskommando, Rückkehr ungewiß.
Außerdem rächen sich die Autofahrer in beiden Stadthälften dafür, daß man so elegant an ihnen vorbeiwischt, indem sie immer häufiger öffentlich Verständnis heucheln für die scheinbar progressive Forderung nach Tempo 30 in der Stadt. Als ob es darum noch ginge. Das Hauptproblem sind doch nicht mehr nur die fahrenden, sondern besonders die stehenden Stinker. In meiner „verkehrsberuhigten“ Mariannenstraße zum Beispiel stehen sie dreimal am Tag für je zwei Stunden und stinken. Eine durchschnittliche Berliner Radlerlunge dürfte so gesehen einem normalen Pkw-Thorax um Jahre voraus sein, was das Altern angeht. Sofern sie ein bestimmtes Alter überhaupt erreicht. Denn im Gegensatz zu Hase, Reh und anderem Waidwild ist für die Radler nur eine sehr kurze Schonzeit im tiefsten Winter vorgesehen. So manche GenossInnen aus SO36 und anderen Vierteln haben deshalb damit begonnen, die Palästinenser-Tücher und Haßkäppis aus den guten alten Häuserkampf- und Antiimp-Zeiten hervorzukramen und sie — zunächst noch — als Abgasfilter zweckzuentfremden.
Doch wie lange mag dies gutgehen? Handelt es sich hierbei nicht schon um die sinnbildlichen Vorboten einer völlig neuen Frontstellung in der Stadt? Womöglich heißt es in heute-journal und Tagesthemen bald wieder:
„Guten Abend meine Damen und Herren. In den späten Nachmittagsstunden ist es im Anschluß an eine Fahrraddemonstration im Berliner Bezirk Kreuzberg zu den schwersten Krawallen der letzten Jahre gekommen. Die vemummten Gewalttreter zündeten Autos an, demolierten Ampelanlagen und rissen an mehreren Stellen mit Vorschlaghämmern die Straße auf. Die Beikonomen forderten auf großflächigen Transparenten den sofortigen und vollständigen Ausbau des Berliner Radwege-Netzes sowie den Nulltarif bei öffentlichen Verkehrsmitteln und ein umgehend ,autofreies Kreuzberg‘. Die Demonstration stand unter dem verwirrenden Motto ,Genosse Blaumilch lebt‘. Nach Angaben der Polizei ist bislang ein Sachschaden von mehreren Millionen Mark entstanden. Die Ausschreitungen dauern zur Stunde noch an....“
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