: Carmen, das Theatergeschöpf
■ Bizets Oper durch Carlos Saura in Stuttgart fulminant realisiert
In der ersten Hälfte der achtziger Jahre sorgte der Carmen-Film des spanischen Regisseurs Carlos Saura im deutschen Mittelstand für Furore: man wurde jäh daran erinnert, wohin männliche Begierde und Leidenschaft einen treiben können; frau kostümierte sich in Rot und Schwarz und belegte womöglich gar einen spanischen Tanzkurs. Saura hatte wohl durchaus autobiographische Momente in sein Opus einfließen lassen, welches die Oper von Henri Meilhac, Ludovic Halévy und Georges Bizet nur ausschnittweise benutzte, geschickt weitere Motive der literarischen Vorlage Prosper Merimées einsetzte und den Film von allem antiquierten Folklorismus freihielt (freilich von modernen touristischen Klischees profitierte).
Das Staatstheater Stuttgart setzte das in der Schwaben-Metropole immer noch reichlich vorhandene Geld ein und auf den großen Namen: Saura sollte nun der Bühne eine vergleichbare Sogwirkung zukommen lassen wie vor sieben Jahren dem Kino. Damals hatte er die Geschichte der Carmen aus dem Blickwinkel eines (Ballett-)Regisseurs erzählt, der Carmen zu choreographieren beginnt, sich ein Rasse-Weib für die Titel-Rolle ausersieht und dieser ganz und gar habhaft werden möchte. Sie aber entzieht sich den hartnäckigen Versuchen, mehr als eine künstlerisch-geschäftliche Beziehung herzustellen; sie lebt ihr Leben weiter — mit den bekannten tödlichen Folgen. Sie muß es lassen.
Das Team von Carlos und Antonio Saura sorgte mit neun Assistenten dafür, daß die Schwaben nun nicht die Oper zum Film serviert bekamen (wird der für die Ballett-Einlage zuständige Choreograph José de Udaeta mitgerechnet, so zählte die Regie-Mannschaft stolze zwölf Häupter). Sie schufen ein Ambiente, in dem sich auch Parsifal oder die Lady Macbeth hätten sehen lassen können — keine Spur von Espagnolerie. Weiße Blöcke vor blauem Hintergrund, große Türöffnungen in den seitwärtigen Wänden sorgten bei den ersten beiden Akten dafür, daß die von den Gebrüdern Saura gewünschte „Zeitlosigkeit“ vor Augen geführt wurde und die Darsteller die Chance erhielten, dem „mythischen Gehalt“ des Dramas auf den Grund zu gehen. Nur für das dritte Bild wurde eine angedeutete Gebirgslandschaft gewählt, aber auch diese war so deutlich stilisiert, daß der auf der Paßhöhe singende Chor eben der Opernchor blieb und nicht zu einer Bande von Schmugglern und Zigeunern mutierte. Am sinnfälligsten das Schlußbild: eine geschwungene Betonwand, die zu einer modernen Arena gehören könnte. Doch das Halbrund, das sie umschließt, dient nicht dem Stierfechter Escamillo für seinen Sieg, sondern bildet den menschenleeren letzten Schauplatz in dem von Bizet komponierten Einzelkampf der Geschlechter: Carmen tritt in die Rolle des Stiers und Don José, der kriminell gewordene Sergeant, tötet sie aus Frustration und Eifersucht.
Die Inszenierung ließ den Sängern allen Raum, ihre sehr genau herausgearbeiteten und scharf voneinander unterschiedenen Temperamente auszuleben. Neil Shicoff — ein stimmlich überragender José, der den Minderwertigkeitskomplex des in die Stadt gekommenen Landjungen darzustellen weiß und die Hemmungslosigkeit auf dessen abschüssigem Weg. Shicoff ist ein Sänger, der mit einem Atemzug allen Männern, die nicht souverän über das hohe C verfügen, demonstriert, daß er sie für Krüppel hält. Marta Senn als Carmen ist von gleicher Wucht, freilich stellt sie die verführerischen Farben ihrer Stimme in den mittleren und tiefen Lagen nachdenklicher aus, bewahrt sich in der Darstellung der feurigen Liebhaberin das Moment von Jungmädchenhaftigkeit. Ulrike Sonntag als treue Micaela — eine sehr deutsche Lösung, freilich plausibel. Selbst Michael Ebbecke als selbstverliebter Escamillo lief im Lauf des Premierenabends noch zu guter Form auf. Und Marcela Holzapfel wie Helene Schneiderman verdienten sich als Zigeunermädchen auch noch brausenden Applaus. Die Stuttgarter bekamen mit dieser Inszenierung mehr als ein Fest brillanter Stimmen: Sie sahen eine ganz auf die OperCarmen zugeschnittene Inszenierung, deren erste Bilder weder originell noch besonders überzeugend waren. Aber man verstand die Diskretion, die Zurücknahme der optischen Machtmittel um der Musik willen. Garcia Navarro verlangte dem Orchester ab, was aus ihm herauszuholen ist; daß er dem Hinterhersingen des Chors nicht energisch entgegenwirkte, trübte den ansonsten hervorragenden Gesamteindruck der musikalischen Realisierung. Frieder Reininghaus
G. Bizet: Carmen. Regie: Carlos Saura. Nächste Aufführungen: 10./13.7. im Staatstheater Stuttgart.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen