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DOKUMENTATION„Ein Kompromiß für Rußland“

■ Ein Gespräch der 'Literaturnaja Gazeta‘ mit Adam Michnik über die Lehren, die Rußland aus der Erfahrung der Solidarność ziehen kann

Literaturnaja Gazeta: Heute wird viel davon gesprochen, daß die Sowjetunion am Rande entweder eines Militärputsches oder des Ausnahmezustandes steht. Polen ist diesen Weg eigentlich schon gegangen. Wie sah das bei euch aus, und gab es eine Alternative?

Adam Michnik: Ich glaube, es gibt in jeder Situation eine Alternative. Alles hängt von dem Preis ab, den man dafür zahlt. Was in Polen passiert ist, ist natürlich nicht allein die Schuld der Kommunisten, sondern auch der Solidarność, der Demokraten. Auch ich fühle mich verantwortlich.

Hätten die Demokraten sich anders verhalten, wären sie „weicher“ gewesen, dann...

...es geht nicht um „weicher“, sondern um „klüger“. Damals bedeutete das, auf einen Kompromiß einzugehen, was keinesfalls die Kapitulation vor dem kommunistischen Apparat bedeutet hätte.

Ja, aber wenn die andere Seite nicht kompromißbereit ist?

Dann kommt es eben zur Situation des Kriegszustandes. Das muß auf jeden Fall vermieden werden. Zum Glück besteht diese Situation heute in Rußland noch nicht.

Glauben Sie, daß bei uns noch eine Verständigung möglich ist?

Ja, zwischen den Demokraten und dem Reformflügel der Kommunistischen Partei. Ich bin Jelzin sehr dankbar, daß er von Kuba und der Koalitionsregierung gesprochen hat. Diese Erklärung beweist seine Kompromißbereitschaft. Ich hoffe, daß sich sowohl im ZK der KPdSU als auch in Gorbatschows Umgebung Leute finden, die fähig sind, sich an einen „runden Tisch“ zu setzen. Es gibt keine andere Wahl. Warum? Weil der Kriegszustand in Polen nicht das Ende der Opposition oder der demokratischen Solidarność bedeutete. Er war eher eine Verteidigung der Kommunisten.

Eine schöne „Verteidigung“ — die Einführung des Kriegszustandes. Obwohl man Jaruzelski zu Ehren sagen muß, daß er noch die humanste Variante realisiert hat. In Polen ging es ohne Blutvergießen ab.

Aber nicht ohne Gefängnis.

Bei euch geschah das vielleicht das erste Mal. Wir in der UdSSR haben da andere Erfahrungen, unser Staat hat immer erfolgreich das eigene Volk bekriegt.

Ich bin da nicht mit Ihnen einverstanden, aus Ihren Worten klingt so ein Determinismus, ein Fatalismus.

Nein, ich behaupte keinesfalls, daß wir wieder zur Diktatur verdammt wären. Aber nichtsdestoweniger...

...Wissen Sie, meine russischen Freunde, und ich habe viele, haben mir das ganze Leben gesagt: bei uns kommt es anders als bei euch. Wir bekommen keine Freiheit. Bei uns wird es keine Opposition geben. Keine Rebellen. Und dann sah ich, daß das nicht wahr ist. Die Russen sind ein großes Volk. Eine unglaubliche geistige Kraft. Kluge Menschen. Eine große Literatur, hervorragende Wissenschaft. Und ich kann jetzt nur immer wiederholen, daß Rußland nicht allein Breschnew ist, sondern vor allem Andrej Dmitrijewitsch Sacharow.

Sacharows gibt es leider wenige, Breschnews gab es mehr.

Richtig. Aber inzwischen hat sich vieles geändert. Für die Mehrheit der Menschen besitzt Andrej Dmitrijewitsch mehr Autorität als Leonid Iljitsch. Wir wollen nicht mehr für die Heimat sterben, wir wollen leben für die Heimat. Und für die Heimat leben, das heißt — gemeinsam leben. Rußland muß für alle da sein — nicht nur für die Kommunisten. Dazu ist ein Kompromiß unabdingbar. Je eher, desto besser.

Wir alle wünschen uns diese Lösung auch, aber bisher sieht es leider so aus, als sollte es nicht dazu kommen. Man spricht vielmehr davon, daß nur eine „eiserne“ militärische, oder halbmilitärische, Hand es schaffen könnte, die Situation im Land zu stabilisieren. Haben die sechs militarisierten Jahre Polen weitergeholfen?

Es waren rausgeworfene Jahre. Der Kriegszustand in Polen war ein Regime gegen das Leben, gegen alle Regeln des Lebens. So auch in Rußland. Das wäre eine Tragödie für das russische Volk. Er hilft nichts und niemandem — weder den Kommunisten noch der Nomenklatura. Das wird eine neue Stagnation, aber danach, wenn die neue Welle anrollt, werden andere zum politischen Kampf antreten. Nicht solche wie Popow, Afanassjew, Stankjewitsch. Nicht so weiche. Die antikommunistischen Bolschewiken werden dann kommen. Grausam und hart. Und die Genossen Apparatschiks werden begreifen, was für einen Fehler sie gemacht haben, daß sie nicht auf einen Kompromiß eingegangen sind. Aber dann ist es zu spät. Ich will Ihnen etwas gestehen. Ich habe ein gutes persönliches Verhältnis zu unserem ehemaligen Präsidenten Jaruzelski. Und der hat mir gesagt: „Der größte Fehler meines Lebens war, daß ich die Leute von der Solidarność, von den Demokraten, Jacek Kuroń zum Beispiel, für die reinsten Teufel gehalten habe. Als wir miteinander hätten reden müssen, haben wir es nicht getan.“ Es gibt so ein posttotalitäres Syndrom: diesen wilden Haß gegen den Kommunismus. Dagegen hilft nur die Vereinigung aller Reformkräfte.

Einverstanden. Aber andererseits sollte man denken, daß in Polen die demokratischen Kräfte, die Solidarność gesiegt haben. Dennoch ist man jetzt zerstritten.

Das ist Pluralismus, Demokratie. Und wenn Gorbatschow sich nicht auf einen Kompromiß mit dem „Demokratischen Rußland“ einläßt, bekommt er die russische Variante des Khomeinismus, eines antikommunistischen Fundamentalismus — das heißt einen Antikommunismus mit bolschewistischem Antlitz.

Václav Havel hat kürzlich gestanden, daß er in der Opposition lange Jahre davon überzeugt war, es brauchten nur die demokratischen Kräfte zu siegen, dann würden sie das Volk schon bald in eine große Zukunft führen. Zum Staatsoberhaupt geworden, habe er begriffen, daß der Sieg der Demokraten nur der Anfang eines sehr schwierigen Weges ist. Das Land muß erst aus dem Sumpf gezogen werden, und ein posttotalitäres Land zu regieren, ist wahnsinnig schwierig.

Mit Havel bin ich seit fünfzehn Jahren befreundet, noch aus der Zeit im Untergrund. Ich mag ihn, schätze ihn und verstehe ihn sehr gut. Er hat recht. Ich selbst weine dem Kommunismus nach. Warum? Weil im Kommunismus alles klar war. Das eine war das Gute, das andere das Schlechte. Das Leben war schwarz- weiß. Heute ist es bunt geworden. Überall herrscht Vielfalt... Aber man darf nicht behaupten, daß das schlimmer wäre als der totalitäre Kommunismus.

Adam, es heißt, es sei leicht, in der Opposition zu sein, viel schwieriger dagegen, Verantwortung zu übernehmen.

Ja, wir ehemaligen Dissidenten haben so eine Art Angst vor der Verantwortung. Ich habe 25 Jahre Opposition auf dem Buckel. Aber heute habe ich auf einmal Angst — weil ich Parlamentsabgeordneter bin. Weil ich Chefredakteur bin. Ich gehöre beinahe schon zur Nomenklatura, ich habe ein Verhältnis zur Macht. Heute muß ich die Politik, wenn sie richtig ist, unterstützen. Ich habe die Regierung Mazowiecki reinen Gewissens unterstützt, weil ich absolut überzeugt war: seine Politik ist richtig. Aber wie furchtbar schwer war es für mich, zu den Bergarbeitern zu gehen und ihnen zu sagen, daß die Preiserhöhung notwendig ist, daß es keinen anderen Ausweg gibt.

Heißt das, die Probe der Macht ist die schwierigste in diesem Leben?

Ganz bestimmt. Und noch etwas: Ein sehr guter russischer Freund von mir, ein berühmter Schriftsteller, hat mir im persönlichen Gespräch gesagt: „Ich gehöre derselben Generation an wie Gorbatschow. Unsere historische Rolle war es, dieses grausame System zu reformieren. Aber ein neues aufzubauen, das schaffen wir nicht mehr.“ Er hat recht. Jetzt müssen wir ein neues System aufbauen. Menschen meines Typs, die Dissidenten, können den Aufbau dieses neuen Systems am ehesten dadurch unterstützen, daß sie gleichsam in die moralische Opposition gehen. Zum Beispiel gegen die Diktatur. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich bin heilfroh, daß ich kein Mann der Macht bin.

(Gespräch: Je.Domnyševa, aus: 'Literaturnaja Gazeta‘ vom 24.4.1991)

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