: »Es kann in den nächsten Jahren zu Engpässen kommen«
■ Schulsenator Jürgen Klemann (CDU) über die Personalsituation an Berlins Schulen, seinen Clinch mit Finanzsenator Elmar Pieroth, »belastete« Ostlehrer, schwule und lesbische AufklärerInnen im Unterricht und die Kinder- und Jugendsportschulen sowie das dreigegliederte Schulsystem
taz: Herr Klemann, haben Sie selber schulpflichtige Kinder?
Jürgen Klemann: Einen siebenjährigen Sproß, der jetzt gerade die erste Klasse fröhlich überstanden hat. Aber Sie wollen daraus sicherlich nicht meine Legitimation als Schulsenator herleiten, oder?
Nein, schließlich hatten Ihre beiden Vorgängerinnen auch keine Kinder.
Ach, so, sie hatten keine. Na, mein Sohn geht jedenfalls auf die Kennedy-Schule [Modellschule für zweisprachigen Unterricht, d. Red.].
Gerade für Grundschüler wie Ihren Sohn ist es wichtig, sicher zur Schule zu kommen. Im Ostteil haben die wenigsten Schulen bislang Pläne zur Schulwegsicherung erarbeitet. Was tut die Senatsschulverwaltung, um Abhilfe zu schaffen?
Im Ostteil der Stadt besteht dringender Handlungsbedarf. Da sind ja manchmal doch relativ breite Verkehrsbänder zu überqueren — das aktuellste Beispiel ist die Karower Landstrasse, wo die Eltern schon gedroht haben, sie würden ihre Kinder nicht zur Schule schicken, wenn nichts passiert. Ich habe mit Verkehrssenator Haase schon darüber gesprochen und ihm gesagt, er muß mobile Ampelanlagen aufstellen.
Sind die SchülerInnen sicher in der Schule gelandet, kommt es auf qualitativ guten Unterricht an. Wie es in den Richtlinien für das Schuljahr 91/92 heißt, ist der Senat der Meinung, daß »zum kommenden Schuljahr 269 zusätzliche Lehrerstellen notwendig« seien. Ist das nun beschlossene Sache oder nicht?
Die Beschlußformel lautet: Der Senat beschließt 269 Stellen und nimmt ansonsten die Richtlinien zur Kenntnis. Es ist also beschlossen.
Wie läßt sich das denn mit der Ankündigung des Finanzsenators vereinbaren, wonach die Lehrerstellen zurückgefahren werden sollen?
Der Finanzsenator sagt, wir müssen den öffentlichen Dienst insgesamt schmaler machen. Wir haben jetzt eine Belastung von über 12 Milliarden im Gesamthaushalt — wenn wir das einfach nur so weiterfahren und im Ostteil die Gehälter von sechzig auf hundert Prozent aufgestockt werden, dann werden wir in drei, vier Jahren Personalausgaben in einer Höhe von 17 Milliarden haben. Das kann sich Berlin nicht leisten. Folglich müssen wir an die Ausstattungsvorsprünge herangehen, die wir beispielsweise gegenüber Hamburg haben: Die Schüler-Lehrer- Relation ist günstig, die Kitas haben eine andere Größe und so weiter. Und da fällt einem noch was ein: die hohe Polizeidichte.
Im Gegensatz zu den Schulen, die mit einem Prozent immerhin 180 Stellen einsparen müssen, bleibt die Polizei davon verschont.
Das ist sehr zu meinem Mißvergnügen so gelaufen. Ich habe dann mit den Stadträten darüber gesprochen, denn es sind ja nicht Stellen gestrichen worden, sondern es sind Personalmittel zu erbringen: Verzögertes Besetzen von Stellen, verzögerte Beförderung, Zeitverträge nicht in vollem Umfang ausschöpfen. Dadurch ist ein Prozent ersparbar und deshalb hat es auch keinen Aufschrei gegeben. Schließlich brauchen wir im Westteil belegbar 503 Stellen mehr und da habe ich einen Weg gefunden, der verkraftbar ist: dazu brauchte ich 269 Stellen. Den Rest der 503 Stellen erbringe ich durch die Stundentafelkürzung in Höhe von 189 Stellen, ich kriege vierzig zusätzliche Stellen für die Bildungspendler aus dem Ostteil in den Westen.
Faktisch aber wird es über Jahre hinaus keine expliziten Neueinstellungen geben.
Nein, es werden Zeitverträge umgewandelt.
Das sind keine Neueinstellungen.
Aber dafür kriege ich doch die Zeitverträge frei!
Ist die Frage, ob dort dann neue Leute eingestellt werden.
Ich will nicht verhehlen, daß es in den kommenden Schuljahren aufgrund der Abgangszahlen zu Engpässen kommen kann und kommen wird. Wir leisten uns, im Ostteil der Stadt mehr an Bord zu behalten, als rechnerisch notwendig wäre. Die Alternative wäre, jetzt Lehrer mit großer Erfahrung in den Vorruhestand oder überhaupt an die frische Luft zu setzen — ich will das aber sozialverträglich machen.
Nach welchen Kriterien wurden Lehrer im Osten vom Dienst enthoben?
Das sind zwei: Stasi-Vergangenheit und fachliche Eignung. Kader-Recycling war nicht das, was wir uns vorgestellt haben. Jemand, der nichts anderes lehren kann als Marxismus/Leninismus oder Staatsbürgerkunde, was soll ich mit dem. Aber ich habe auch gesagt, ein nutzbares Fach reicht mir, jeder soll die Chance haben, als Lehrer tätig zu sein und sich im Zuge der Weiterbildung verbreitern können. Jeder, der noch gebraucht werden kann, den will ich nicht auf der Straße sehen, sondern an der Schule. Die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer, die nicht übernommen werden können, dürfte zwischen 500 und 600 liegen.
Sie sprachen die Stundentafelkürzungen bereits an. In der 9. und 10. Klasse erwischte es ausgerechnet die musisch-künstlerischen Fächer, die ohnehin nicht gerade üppig vertreten sind.
Mein Traum war es nicht, in diesem Bereich zu kürzen. Ich hatte ja mehr an den Bereich Physik/Chemie gedacht. Aber in einer Koalition versucht man sich abzustimmen, ich mußte respektieren, daß der Ostteil ein zu starkes Kürzen in den naturwissenschaftlichen Fächern nicht wollte — wegen des starken Profils, das es dort in dem Bereich gab und gibt.
Zu dieser Stundentafelverkürzung hat ja auch die beschlossene 5-Tage-Woche geführt. Hätte man nicht erst einmal grundsätzlichere Diskussionen darüber führen müssen, ob die 5-Tage-Woche realisierbar ist?
Ja, so malt man sich das aus. Genaugenommen geht man erst an Rahmenpläne ran und wenn man die dann entmottet hat, zieht man Konsequenzen bei der Anzahl der Stunden, die man für den Stoff braucht. Es ist nur von je her anders gewesen, selbst bei der Frau Volkholz...
Die dürfte für Sie ja kein Maßstab sein.
Nein, aber es ist nie anders gewesen, und wenn man weiß, daß so ein Rahmenplan normalerweise erst nach einem Jahrzehnt fertig ist, dann ist das keine zeitliche Perspektive. Es ist nun mal so, daß die 5-Tage-Woche etwas war, das sich die Menschen im Ostteil der Stadt nach der Wende erkämpft hatten.
Zum Thema Sexualkundeunterricht gab es heftige Auseinandersetzungen, weil es verstärkt Überfälle von Jugendlichen auf Schwule und Lesben gibt, die Schulverwaltung aber Schwule und Lesben nicht für »Werbeveranstaltungen« — so ihre Formulierung — im Unterricht zulassen will.
Ich bin einigermaßen unglücklich, wie die Schulverwaltung öffentlich dargestellt wurde in der Diskussion, wie man mit Homosexualität in der Schule umgehen sollte. Das hier ist kein vermuffter, spießbürgerlicher Laden, wo die unterschiedlichsten Formen von Sexualität aus dem Unterricht ferngehalten werden sollen. Hier ist zeitgemäße Liberalität zu Hause.
Sollen nun Betroffene auf Betroffene stoßen dürfen oder nicht?
Also, ich halte nichts — gerade bei einem so sensiblen Thema wie Sexualität — von Kampagnen. Und diese Vorschläge, die da gekommen sind, sehen so ein bißchen nach Kampagnen aus.
Absurd. Woran machen Sie das fest?
Man muß aufpassen, glaube ich, daß man mit dem Thema so ernsthaft umgeht. Ich denke, diese Form von Kampagnen, die leicht Empfindlichkeiten tangieren können, nützen nichts. Wir haben genug verantwortliche Pädagogen, die mit dem Thema sensibel und angemessen umgehen können. Das schließt nicht aus, daß man sich Außenstehende in den Unterricht hineinholt. Ich werde nicht hingehen und einen Lehrer deshalb kritisieren, weil er derartig Betroffene in den Unterricht holt. Es ist etwas anderes, wenn das im Einzelfall für richtig gehalten wird, als wenn quasi von der Schulverwaltung propagiert wird, Lesben und Schwule in den Sexualkundeunterricht!
Halten Sie die Sache nun prinzipiell für richtig, oder haben Sie einfach nur Angst vor den Eltern?
Ich habe Ängste davor, wenn der Eindruck einer Kampagne entsteht.
Kennen Sie selber Schwule oder Lesben?
Ja.
Haben Sie mit denen mal darüber gesprochen?
Nein. Also ich habe mit dem Herrn Mücke [von der Arbeitsgemeinschaft homosexueller Lehrer in der GEW d. Red.] darüber mal gesprochen. Ich habe versucht, ihm den Eindruck zu vermitteln, daß das, was auch immer da zuletzt an Eindrücken entstanden ist, weder den engagierten Menschen hier im Hause noch meiner Position gerecht wird. Je unbefangener und offener man mit einem solchen Thema umgeht, desto mehr...
So offen waren die Formulierungen nicht. Da wurde mit der Biologie argumentiert, mit uralten Vorurteilen, mit dem Grundgesetz als letztem Notnagel.
Es ist ja nicht im engeren Sinne falsch, was da so steht. Die Frage ist, ob es glücklich ist. Vermutlich werde ich solche Formulierungen nicht wiederholen.
Minderheiten, in einem anderen Sinne, sind ja auch die Schüler und Schülerinnen, die eine Spezialschule besuchen können. Wieso sind die Ostberliner Spezialschulen immer noch dem Senat unterstellt?
Das ist wirklich eine zeitbegrenzte Phase. Eine Schulverwaltung ist kein typischer Schulträger und wir wollen so rasch wie möglich die Schulen in bezirkliche Verantwortung übergeben. Das veränderte pädagogische Profil zu finden ist aber keine einfache Geschichte, gerade bei den Kinder- und Jugendsportschulen, kurz KJS, die mit einer enormen Erwartungshaltung von der Seite des Sports begleitet werden. Wir wollen die KJS 92/93 in bezirkliche Verantwortung übergeben.
Warum müssen die noch ein weiteres Jahr dem Senat unterstellt sein? Immerhin haben diese Schulen eine personelle Ausstattung, von der Sonderschulen im Westen nur träumen können, ein Lehrer auf fünf SchülerInnen. Jetzt sollen es 20 Schüler werden, was immer noch sehr niedrig ist.
Das sind nur Denkmodelle. Wenn man ein besonderes Profil hat, bedarf es aufgrund dieses besonderen Profils sicher auch besonderer Ausstattung. Aber nicht alles, was momentan an Bord der KJS ist, wird auf Dauer an Bord bleiben.
Die Frage, warum die Schulen nicht schon jetzt in die Zuständigkeit der Bezirke übergehen, haben Sie nicht beantwortet.
Wenn das kürzer geht, dann geht es kürzer. Der Einsatz von kommissarischen Leitern ist ja gerade erst passiert. Sehr viel später, als an den allgemeinbildenden Schulen. Das zeigt Ihnen, wie schwer wir uns getan haben...
Die Spezialschulen in Bezirksverantwortlichkeit zu geben...
...einen vernünftigen Weg zu finden. Sie verkennen das. Nun sagen Sie mal, wo sollten wir da ein Interesse haben. Weder wollten wir Diplomaten im Trainingsdreß züchten noch sonst etwas. Wir wollen eine Schule haben, wo einer nicht ins Leere fällt, nur weil er die sportlichen Erwartungen nicht erfüllt.
Sind denn an diesen Schulen bereits Teile des Lehrerkollegiums ausgetauscht worden?
Da sind wir dabei. Das sind Dinge, die beileibe noch nicht soweit sind, wie wir uns das vorgestellt haben. Aber wenn das neue Schuljahr anfängt, wird man auch dort nicht den Griffel fallen lassen können.
Was heißt das konkret?
Wir haben angefangen, es sind schon Kündigungen erfolgt. Aber es gibt natürlich Kündigungsfristen.
Wie wird das Aufnahmeverfahren an diesen Schulen aussehen?
Da werden sich beispielsweise auch der Landessportbund und die Sportfachverbände mit beteiligen müssen. Das frühere Aufnahmeverfahren jedenfalls wird es so nicht geben. Das Normalverfahren — wer am nächsten wohnt, wird zuerst aufgenommen — das kann es allerdings auch nicht sein.
Und was wird aus der Herder-Schule in Lichtenberg?
Die Herder-, die Händel- und die Hertz-Schule gehen schon in diesem Schuljahr in Bezirkskompetenz über. Die Ballettschule und die Schule für Artistik sollen organisatorisch zusammengefaßt werden. Diese beiden Schulen gehen also noch nicht in Bezirkskompetenz über.
Sie sind ja auch für die berufliche Ausbildung zuständig. Der Senat will — wegen des Lehrstellennotstands im Ostteil — Firmen, die zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen, pro Platz 5.000 Mark zahlen. Wieso ist die Prämie nicht an Qualitätskriterien gebunden?
Es ist ja nicht so, daß es keine Kriterien gäbe. Das Richtlinienprogramm sieht vor, daß wir im Westteil der Stadt besonders Ausbildungsplätze in neugeordneten Berufen fördern, also besonders zukunftsträchtige. Aber wir glauben, daß es besonders im Moment nicht auschließlich um Qualität geht.
Hauptsache, es sind so viele wie möglich erst einmal untergebracht.
Die Meßlatte ist tatsächlich, daß jeder erst einmal einen Ausbildungsplatz hat. Heute ist gefragt, daß man schon in der Schule und dann weitergehend Lerntechniken vermittelt, daß man Menschen darauf einrichtet, daß sie mit einer Ausbildung nicht das ihre getan haben für den Rest des Lebens. Ein Fundament zu haben ist zukunftsträchtiger, als auf den Traumjob zu warten.
Noch einmal zur Schule: Umfragen und Anmeldungen der Eltern haben gezeigt, daß Gesamtschulen und Gymnasien tatsächlich im Ostteil am meisten gefragt sind. War es nicht eine Fehlentscheidung, dort auch das gegliederte Schulsystem einzuführen?
Das gegliederte Schulsystem ist das Beste, was man überhaupt Eltern und Schülern anbieten kann. Aus einer Vielfalt auswählen zu können...
...überfordert so manchen.
Ja, aufgrund einseitiger Informationspolitik. In dieser Umbruchsituation war das für viele sehr schwierig, das ist gar keine Frage. Mein Credo ist, auswählen zu können, aus einer Vielfalt von Möglichkeiten. Ob nun die Marktanteile sich verschieben, zugunsten des Gymnasiums, zu lasten einer Real- oder Hauptschule, Gott, das sehe ich mit relativer Leidenschaftslosigkeit. Ich habe die Gesamtschule niemals verteufelt. Nur — wenn die Gymnasiumsfähigen alle zum Gymnasium gehen und der Rest auf die Gesamtschule, tut man der Gesamtschule keinen Gefallen.
Würden Sie Ihr Kind lieber zur Hauptschule oder aufs Gymnasium schicken?
Jedem Kind seine Schule. Der Schultyp, wo es ein Maximum an Förderung hat. Und das ist in manchen Fällen das Gymnasium und in anderen die Hauptschule. Es gibt nirgends kleinere Klassen als in der Hauptschule. Daß die Eltern — so auch ich — jeweils hoffen, daß das eigene Kind besondere Anlagen und Befähigungen hat, das ist klar.
Interview: Martina Habersetzer/Hans-Hermann Kotte
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